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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Brodskys... Genesung äußerst wichtig sein könnte.«
    »Aha.« Miss Collins nickte und schien darüber nachzudenken. Dann sagte sie: »Darf ich aus all dem schließen, Stephan, daß Ihr Vater bei Leo in nur sehr beschränktem Maße erfolgreich ist?«
    Der hänselnde Ton in ihrer Stimme schien mir deutlicher denn je zu sein, doch Stephan bemerkte ihn auch diesmal nicht.
    »Aber ganz und gar nicht!« erwiderte er verärgert. »Im Gegenteil, Vater hat wahre Wunder bewirkt und enorme Fortschritte erzielt! Es ist nicht einfach gewesen, aber Vaters Beharrlichkeit war bemerkenswert, das ist sogar uns aufgefallen, die wir doch wissen, daß Vater auch sonst alles sehr beharrlich angeht.«
    »Vielleicht ist er nicht beharrlich genug gewesen.«
    »Sie haben ja keine Ahnung, Miss Collins! Überhaupt keine Ahnung! Manchmal kommt er nach einem zermürbenden Tag im Hotel erschöpft nach Hause, so erschöpft, daß er gleich nach oben ins Bett gehen muß. Es ist schon passiert, daß Mutter dann herunterkam und sich beschwert hat, und dann bin ich hochgegangen, nach oben in ihr Schlafzimmer, und dann habe ich Vater gesehen, der einfach quer aufs Bett gefallen ist und vor sich hin schnarcht. Sie müssen wissen, schon seit Jahren gibt es diese feste Vereinbarung, daß er sich zum Einschlafen auf die Seite legt, aber nicht auf den Rücken, weil er sonst so schrecklich schnarcht, also können Sie sich denken, wie angewidert Mutter ist, wenn sie ihn so findet. Meistens ist das dann eine Heidenarbeit für mich, ihn wach zu kriegen, aber was bleibt mir schon übrig, denn sonst, ich sagte es ja schon, sonst weigert Mutter sich, wieder ins Schlafzimmer zu gehen. Sie geht dann einfach mit wütendem Blick auf dem Flur auf und ab, und sie geht erst wieder hinein, wenn ich ihn aufgeweckt, ihn ausgezogen, ihm in seinen Bademantel geholfen und ihn dann ins Bad geführt habe. Aber was ich damit sagen will, ist folgendes: Auch wenn er derart müde ist, klingelt manchmal das Telefon, und es ist einer von den Angestellten, der mitteilt, daß Mr. Brodsky extrem gereizt ist, daß er etwas zu trinken will, und wissen Sie was, Vater sammelt dann oft von irgendwoher wieder Kraft. Er reißt sich zusammen, dieser Ausdruck kommt wieder in seine Augen, er zieht sich an und geht hinaus in die Nacht und kommt dann manchmal erst nach Stunden wieder zurück. Er hat gesagt, er wird Mr. Brodsky wieder auf die Beine bringen, und er gibt alles, was er hat, er gibt sein Äußerstes, um zu erreichen, was er sich vorgenommen hat.«
    »Das ist höchst lobenswert. Aber was genau hat er denn bis jetzt erreicht?«
    »Ich kann Ihnen versichern, Miss Collins, der Fortschritt ist bemerkenswert. Alle, die Mr. Brodsky in der letzten Zeit gesehen haben, sagen das. Es tut sich jetzt soviel mehr hinter diesen Augen. Auch seine Bemerkungen werden mit jedem Tag sinnvoller. Aber das Wichtigste ist, daß sein Talent, Mr. Brodskys außerordentliches Talent, zweifellos wieder zurückkehrt. Nach allem, was man so hört, verlaufen die Proben wirklich sehr vielversprechend. Das Orchester hat er ganz und gar für sich gewonnen. Und wenn er nicht im Konzertsaal probt, ist er immer bemüht, für sich allein weiterzuarbeiten. Oft hört man beim Gang durchs Hotel winzige Bruchstücke, wenn er am Klavier sitzt. Wenn Vater das Klavier hört, gibt ihm das so viel Zuversicht, daß man förmlich sieht, wie er sich innerlich bereit erklärt, auch das letzte bißchen Schlaf zu opfern.«
    Der junge Mann brach ab und sah Miss Collins an. Einen Augenblick lang schien sie ganz in Gedanken versunken zu sein und hatte ihren Kopf zur Seite gelegt, als ob auch sie einige Klänge eines entfernten Klaviers aufschnappen wollte. Dann legte sich auf ihr Gesicht erneut ein sanftes Lächeln, und sie sah Stephan wieder an.
    »Nach dem, was ich gehört habe«, sagte sie, »setzt Ihr Vater ihn in diesen Salon, setzt ihn vor den Flügel wie eine Gliederpuppe, und da bleibt Leo dann stundenlang sitzen und dreht sich auf dem Klavierstuhl hin und her, ohne eine einzige Taste zu berühren.«
    »Das ist ungerecht, Miss Collins! Vielleicht hat es am Anfang solche Phasen gegeben, aber inzwischen ist das ganz anders geworden. Selbst wenn er manchmal nur still dasitzt – Sie müssen doch immerhin bedenken, daß das nicht unbedingt bedeutet, daß sich nichts tut. Stille kann genausogut ein Hinweis darauf sein, daß tiefgründigste Gedanken Gestalt annehmen, daß verborgene Kräfte freigesetzt werden. Neulich ist Vater nach einer

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