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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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mitzuteilen, daß sie mich nicht länger unterrichten könne, wenn sich nicht bald etwas änderte. Später erfuhr ich, daß Mutter ein bißchen die Fassung verloren und Frau Tilkowski angeschrien hatte. Na, jedenfalls ist das alles nicht sehr erfreulich zu Ende gegangen.«
    »Und danach sind Sie zu einem anderen Lehrer gekommen?«
    »Ja, zu einem Fräulein Henze. Die war gar nicht so schlecht. Aber eben keine Tilkowski. Ich habe immer noch nicht geübt, aber Fräulein Henze war da nicht so streng. Als ich dann zwölf war, änderte sich wieder alles. Es ist schwer zu sagen, was genau passiert ist, es klingt vielleicht ein bißchen merkwürdig. Eines Nachmittags saß ich zu Hause im Wohnzimmer. Die Sonne schien, ich erinnere mich, daß ich in dieser Fußballzeitschrift gelesen habe, und mein Vater kam ins Zimmer geschlendert. Ich weiß noch, er trug seine graue Weste und hatte die Hemdsärmel hochgekrempelt, und er stand einfach da und starrte aus dem Fenster in den Garten hinaus. Ich wußte, daß Mutter im Garten war und auf der Bank saß, die wir damals unter den Obstbäumen stehen hatten, und ich wartete darauf, daß Vater hinausging und sich zu ihr setzte. Aber er blieb einfach nur da stehen. Er stand mit dem Rücken zu mir, also konnte ich sein Gesicht nicht sehen, aber immer wenn ich hochschaute, sah ich, daß er in den Garten hinausstarrte, genau zu der Stelle, an der Mutter saß. Na ja, als ich zum dritten oder vierten Mal hochschaute und Vater immer noch nicht hinausgegangen war, dämmerte mir ganz plötzlich etwas. Das heißt, in dem Augenblick ist es mir klargeworden. Daß mein Vater und meine Mutter seit Monaten schon kaum ein Wort mehr miteinander gesprochen hatten. Es war ganz merkwürdig, plötzlich kam diese Erkenntnis über mich, daß sie fast gar nichts geredet hatten. Merkwürdig, daß mir das nicht schon früher aufgefallen war, aber ich hatte es tatsächlich nicht gemerkt, bis zu diesem Augenblick. Aber dann sah ich auf einmal alles ganz klar. Ganz plötzlich erinnerte ich mich an eine ganze Reihe von Gelegenheiten – Zeiten, zu denen Vater und Mutter früher miteinander geredet hätten, aber in Wirklichkeit hatten sie es nicht getan. Ich will damit nicht sagen, daß sie immer nur geschwiegen hätten. Aber sehen Sie, da war auf einmal diese Kälte zwischen ihnen, und ich hatte das bis zu diesem Augenblick nicht bemerkt. Ich kann Ihnen sagen, Mr. Ryder, das war ein ziemlich merkwürdiges Gefühl, als mir diese Erkenntnis auf einmal kam. Und fast im selben Moment schoß mir diese andere schreckliche Sache durch den Kopf – daß diese Veränderung nämlich genau zu dem Zeitpunkt eingesetzt hatte, als ich mit den Stunden bei Frau Tilkowski aufgehört hatte. Ich konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, denn seither war ja schon so viel Zeit vergangen, aber je länger ich darüber nachdachte, um so sicherer war ich, daß damals alles angefangen hatte. Heute weiß ich nicht mehr, ob Vater damals in den Garten hinausging oder nicht. Ich habe nichts gesagt, einfach nur so getan, als ob ich weiter in meiner Fußballzeitschrift lesen würde; nach einer Weile bin ich dann in mein Zimmer hinaufgegangen, habe mich aufs Bett gelegt und über alles nachgedacht. Danach habe ich dann wieder ganz intensiv zu üben angefangen. Ich habe angefangen, wirklich sehr fleißig zu üben, und ich muß große Fortschritte gemacht haben, weil meine Mutter ein paar Monate später zu Frau Tilkowski gegangen ist, um sie zu fragen, ob sie mich eventuell wieder zurücknehmen würde. Heute weiß ich, daß das sehr demütigend für Mutter gewesen sein muß, nachdem sie beim letztenmal so herumgeschrien hatte, und sie hat Frau Tilkowski wohl ziemlich lange bearbeiten müssen. Na jedenfalls, am Ende hat sich Frau Tilkowski schließlich bereit erklärt, mich zurückzunehmen, und diesmal habe ich die ganze Zeit hart gearbeitet, geübt und nochmals geübt. Aber wissen Sie, ich hatte diese zwei wichtigen Jahre verloren. Die Jahre zwischen zehn und zwölf, Sie wissen besser als jeder andere, wie wichtig diese Jahre sind. Sie können mir glauben, Mr. Ryder, ich habe versucht, diese verlorenen Jahre wieder aufzuholen, ich habe getan, was ich konnte, aber es war eben einfach zu spät. Noch heute frage ich mich oft: ›Was habe ich mir dabei bloß gedacht?‹ Ach, was gäbe ich nicht darum, diese Jahre zurückzubekommen! Aber sehen Sie, ich glaube, meine Eltern haben nicht wirklich einschätzen können, wie verheerend sich diese zwei fehlenden

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