Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
Vom Netzwerk:
Christoffs letztem Konzert – ich weiß noch, er hatte in Kazans Grotesken für Violoncello und drei Flöten gespielt. Ich ging schnell durch die Dunkelheit des Liebmann-Parks, es war recht kühl, und ich sah, daß nur wenige Schritte vor mir Herr Kohler, der Apotheker, ging. Ich wußte, daß er auch in dem Konzert gewesen war, also schloß ich zu ihm auf, und wir fingen an, uns zu unterhalten. Zunächst habe ich sehr darauf geachtet, meine Meinung für mich zu behalten, aber dann fragte ich ihn, ob ihm Herrn Christoffs Konzert gefallen habe. Ja, hat Herr Kohler gesagt. Es muß etwas an der Art und Weise gewesen sein, wie er das gesagt hatte, denn ich erinnere mich, daß ich ihn kurze Zeit später noch einmal fragte, ob ihm das Konzert gefallen habe. Diesmal sagte Herr Kohler, ja, es habe ihm gefallen, aber vielleicht sei Herrn Christoffs Darbietung ein wenig sachlich gewesen. Ja, ›sachlich‹ war das Wort, das er gebrauchte. Wie Sie sich vorstellen können, habe ich gut überlegt, ehe ich wieder das Wort ergriff. Schließlich beschloß ich, alle Vorsicht fahren zu lassen, und sagte: ›Ich denke, ich stimme Ihnen da zu, Herr Kohler. Das Ganze war in gewisser Weise etwas nüchtern.‹ Woraufhin Herr Kohler bemerkte, ›kühl‹ sei das Wort, das ihm in den Sinn gekommen sei. In dem Augenblick hatten wir die Parktore erreicht. Wir sagten einander gute Nacht und trennten uns. Aber ich weiß noch, Mr. Ryder, daß ich in der Nacht kaum geschlafen habe. Einfache Leute, ehrbare Bürger wie Herr Kohler äußerten sich inzwischen so. Es war klar, daß es mit dem Vertuschen unseres Irrtums nicht länger so weitergehen konnte. Es war höchste Zeit, daß wir – wir alle in den einflußreichen Positionen – unseren Fehler eingestanden, wie weitreichend die Konsequenzen auch sein mochten. Oh, aber entschuldigen Sie, das ist tatsächlich Herr Schaefer, der da neben Herrn Kollmann sitzt. Ich bin sicher, beide Herren haben interessante Ansichten über das, was passiert ist. Sie sind eine ganze Generation jünger als ich, und deshalb werden sie die Dinge von einer etwas anderen Warte aus gesehen haben. Außerdem weiß ich, wie sehr sie sich darauf gefreut hatten, Sie heute vormittag kennenzulernen. Lassen Sie uns bitte hinübergehen.«
    Pedersen stand auf, und ich sah seine gebückte Gestalt sich die Reihe entlangzwängen, wobei er Entschuldigungen murmelte. Als er den Mittelgang erreichte, richtete er sich auf und machte eine Geste in meine Richtung. Obwohl ich so erschöpft war, blieb mir nichts anderes übrig, als zu ihm zu gehen, und so stand auch ich auf und fing an, mir meinen Weg zum Gang hin zu bahnen. Dabei fiel mir auf, daß eine beinahe festliche Stimmung den Kinosaal erfüllte. Überall machten die Leute Scherze und wechselten kurze Bemerkungen miteinander, während sie auf den Film sahen, und niemandem schien es etwas auszumachen, daß ich mich an ihnen vorbeidrängte. Im Gegenteil, die Leute schienen eifrig die Füße zu einer Seite hin einzuziehen oder bereitwillig aufzuspringen. Ein paar ließen sich sogar nach hinten in ihren Sitz fallen, hielten die Füße in die Luft und quietschten dabei vor Vergnügen.
    Als ich den Mittelgang erreicht hatte, ging Pedersen vor mir her die mit Teppichboden ausgelegte schräge Fläche hinauf. Irgendwo hinten beim Parkett blieb er stehen, und mit förmlicher Geste sagte er:
    »Nach Ihnen, Mr. Ryder.«

NEUN
    Wieder mußte ich mich an Leuten entlangdrängen, diesmal ging Pedersen direkt hinter mir und flüsterte Entschuldigungen in unser beider Namen. Bald gelangten wir zu einer Gruppe von mehreren dicht zusammensitzenden Männern. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich begriff, daß ein Kartenspiel im Gange war, wobei einige Spieler sich von der hinteren Reihe nach vorn beugten, während sich andere von der vorderen Reihe nach hinten lehnten. Sie schauten hoch, als wir näher kamen, und nachdem Pedersen mich vorgestellt hatte, richteten sie sich auf, so daß sie halb standen. Sie setzten sich erst wieder, als ich bequem in ihrer Mitte saß, und ich mußte etliche Hände schütteln, die sich mir im Dunkeln entgegenstreckten.
    Der Mann, der mir am nächsten saß, trug einen Straßenanzug, den Hemdkragen hatte er aufgeknöpft und die Krawatte gelokkert. Er roch nach Whisky, und ich merkte, daß es ihm schwerfiel, den Blick auf mich gerichtet zu halten. Sein Begleiter, der ihm über die Schulter schaute, war hager, hatte ein mit Sommersprossen merkwürdig geflecktes Gesicht und

Weitere Kostenlose Bücher