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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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war.
    Der Mann war recht fortgeschrittenen Alters und hatte silbergraues Haar. Er strahlte Autorität aus, und fast sofort senkte sich vollständige Stille über den Raum. Einige Augenblicke lang schaute der Mann mit dem ernsten Gesicht die versammelten Gäste einfach nur mit tadelndem Blick an. Mit gleichzeitig gedämpfter und volltönender Stimme sagte er dann:
    »Wenn ein solch wunderbarer, edler Gefährte von einem geht, gibt es wenig, so wenig, das andere sagen könnten und das nicht leer oder seicht klingt. Und dennoch können wir diesen Abend unmöglich vorübergehen lassen ohne einige offizielle Worte im Namen aller hier Versammelten, um Ihnen, Mr. Brodsky, unser tief empfundenes Mitgefühl zu übermitteln.« Er hielt einen Moment lang inne, während zustimmendes Gemurmel durch den Raum ging. Dann fuhr er fort: »Ihr Bruno ist nicht nur innig geliebt worden von denen unter uns, die ihn in der Stadt seinen Geschäften haben nachgehen sehen. Er hat einen Grad der Wertschätzung erreicht, der nur höchst selten erreicht wird von Menschen, geschweige denn von Vierbeinern. Das heißt, er wurde zu einem Sinnbild. Ja, er verkörperte für uns schließlich gewisse Schlüsseltugenden. Leidenschaftliche Treue. Furchtlose Liebe zum Leben. Ablehnung jeglicher herablassender Behandlung. Sehnsucht danach, alles auf die eigene besondere Art zu erledigen, wie seltsam es in den Augen größerer Beobachter auch erscheinen mochte. Das heißt, er verkörperte gerade die Tugenden, die im Laufe der Jahre unsere einzigartige und stolze Gemeinde aufgebaut haben. Tugenden, die wir, wenn ich so sagen darf« – sein Redefluß verlangsamte sich vor lauter Bedeutungsschwere -, »hier hoffentlich sehr bald schon wieder in allen Bereichen des Lebens werden florieren sehen.«
    Er hielt inne und schaute noch einmal in die Runde. Noch einen Augenblick lang hielt er die Zuhörer in seinem frostigen Blick gefangen, dann sagte er zum Abschluß:
    »Lassen Sie uns jetzt gemeinsam eine Schweigeminute zum Gedenken an unseren von uns gegangenen Freund einlegen.«
    Als er die Augen niederschlug, senkten die Leute überall im Raum den Kopf, und wiederum herrschte tiefes Schweigen. Einmal sah ich auf und bemerkte, daß einige Stadtobere an Brodskys Tisch – vielleicht in dem eifrigen Bemühen, ein gutes Beispiel zu geben – eine lächerlich übertriebene Trauerhaltung eingenommen hatten. So hatte etwa einer von ihnen krampfhaft beide Hände an die Stirn gelegt. Brodsky selbst – der während der Rede völlig reglos geblieben war und weder zu dem Sprecher noch in die Runde geschaut hatte – saß weiterhin vollkommen still da, und wieder war da etwas merkwürdig Verwinkeltes an seiner ganzen Haltung. Es war sogar möglich, daß er auf seinem Stuhl fest eingeschlafen war und daß Hoffmans Arm in seinem Rücken in erster Linie praktische Funktion hatte.
    Nach Ablauf der Minute setzte sich der Mann mit dem ernsten Gesicht, ohne noch etwas zu sagen, und sorgte so für einen peinlichen Bruch im Ablauf. Einige begannen vorsichtig, wieder miteinander zu reden, doch dann regte sich etwas an einem anderen Tisch, und ich sah, daß ein großer Mann mit beginnender Glatze und unreiner Haut aufgestanden war.
    »Meine Damen und Herren«, sagte er mit kraftvoller Stimme. Dann drehte er sich zu Brodsky, verneigte sich leicht und sagte leise: »Mr. Brodsky.« Einige Augenblicke lang sah er auf seine Hände hinunter, dann schaute er sich im Raum um. »Wie etliche von Ihnen ja bereits wissen, war ich derjenige, der den Leichnam unseres lieben Freundes heute am frühen Abend gefunden hat. Ich hoffe, daß Sie mir daher gestatten, kurz einige Worte zu sagen – das betreffend... das betreffend, was sich zugetragen hatte. Denn sehen Sie, Mr. Brodsky« – wieder sah er Brodsky an – »Tatsache ist, daß ich Sie um Vergebung bitten muß. Lassen Sie mich bitte erklären, was ich meine.« Der große Mann hielt inne und schluckte. »Heute abend habe ich wie üblich meine Lieferungen erledigt. Um die bewußte Zeit war ich schon fast fertig, ich hatte nur noch zwei oder drei Kunden aufzusuchen, und ich nahm eine Abkürzung durch die Gasse, die zwischen Eisenbahnstrecke und Schildstraße hinunterführt. Normalerweise würde ich eine solche Abkürzung nicht nehmen, schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit, aber heute war ich früher als gewöhnlich fertig, und wie Sie wissen, hatten wir heute einen überaus prächtigen Sonnenuntergang. Also habe ich die Abkürzung genommen.

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