Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
Vom Netzwerk:
Und da, genau auf halber Höhe der Gasse, habe ich ihn gesehen. Unseren lieben Freund. Er hatte sich an eine sehr abgeschiedene Stelle gelegt, ja fast versteckt, zwischen Laternenpfahl und Holzzaun. Ich habe mich neben ihn gekniet, um mich zu vergewissern, ob er tatsächlich von uns gegangen war. Währenddessen gingen mir mancherlei Gedanken durch den Kopf. Natürlich habe ich an Sie gedacht, Mr. Brodsky. Und daran, was für ein großartiger Freund er Ihnen immer gewesen ist und was für ein tragischer Verlust dies sein würde. Ich habe auch daran gedacht, wie sehr die ganze Stadt Bruno vermissen, wie sie Ihnen in der Stunde Ihrer Trauer beistehen würde. Und lassen Sie es mich ausdrücklich sagen, Mr. Brodsky, ich habe bei all dem Kummer des Augenblicks gespürt, daß das Schicksal mir ein Privileg vergönnt hatte. Ja, Mr. Brodsky, ein Privileg. Es war mir zugefallen, den Leichnam unseres Freundes in die Tierklinik zu transportieren. Für das, was dann geschah, habe ich... habe ich keine Entschuldigung. Gerade eben, während Herr von Winterstein sprach, habe ich dagesessen und war vor lauter Unschlüssigkeit hin und her gerissen. Sollte ich auch aufstehen und sprechen? Schließlich, wie Sie ja sehen, habe ich beschlossen, daß ich genau das tun müßte. Besser, Mr. Brodsky hört es aus meinem eigenen Mund als morgen in Form von Gerüchten. Mr. Brodsky, ich schäme mich zutiefst für das, was dann geschah. Ich kann nur sagen, daß ich nicht einmal in hundert Jahren im Sinn gehabt hätte... Ich kann Sie nur um Verzeihung bitten. Ich habe während der vergangenen Stunden immer wieder darüber gegrübelt, und jetzt weiß ich, was ich hätte tun sollen. Ich hätte meine Pakete absetzen müssen. Wissen Sie, ich habe ja immer noch zwei Pakete getragen, die beiden letzten meiner Auslieferungen. Ich hätte sie absetzen müssen. Sie wären ganz sicher gewesen, da in der Gasse verstaut in der Nähe des Zauns. Und selbst wenn sich jemand damit auf und davon gemacht hätte, was wäre schon dabei gewesen? Aber aus irgendeinem unsinnigen Grund, vielleicht aus einem idiotischen beruflichen Instinkt heraus, habe ich es nicht getan. Ich habe einfach nicht nachgedacht. Das heißt, als ich Brunos Leichnam hochhob, trug ich immer noch die Pakete. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Aber Tatsache ist – das werden Sie morgen ohnehin erfahren, also erzähle ich es Ihnen jetzt lieber selbst -, Tatsache ist, daß Ihr Bruno schon eine ganze Weile dagelegen haben muß, denn sein Körper, wenn er auch im Tod immer noch ganz prächtig wirkte, war kalt und, nun ja, steif geworden. Ja, Mr. Brodsky, steif. Verzeihen Sie, was ich Ihnen jetzt zu sagen habe, wird Ihnen womöglich Kummer bereiten, aber... aber lassen Sie mich fortfahren. Um meine Pakete tragen zu können – wie sehr bereue ich das, tausendmal schon habe ich es bereut -, um meine Pakete weiterhin tragen zu können, hievte ich mir Bruno auf die Schulter, ohne dabei seinen steifen Zustand zu bedenken. Erst als ich auf diese Weise fast schon die ganze Gasse wieder hochgegangen war, hörte ich von irgendwoher den Schrei eines Kindes und blieb stehen. Dann dämmerte mir natürlich die Ungeheuerlichkeit meines Fehlers. Meine Damen und Herren, Mr. Brodsky, muß ich es wirklich aussprechen? Ich sehe schon, das muß ich wohl. Tatsache war dies. Wegen der Steifheit unseres Freundes, wegen meiner idiotischen Art, ihn so auf der Schulter zu transportieren, also praktisch in aufrechter Position… Na ja, Mr. Brodsky, der springende Punkt ist der: Von allen Häusern in der Schildstraße konnte man den oberen Teil des Leichnams über dem Zaun sehen. Tatsächlich war es, o Grausamkeit über Grausamkeit, gerade die Tageszeit, als sich die meisten Familien in ihren Hinterzimmern zum Abendessen versammelt hatten. Sie schauten dann wohl während des Essens in ihren Garten hinaus, und da konnten sie unseren edlen Freund mit von sich gestreckten Pfoten entlanggleiten sehen – ach, was für eine Schmach! Familie um Familie! Das verfolgt mich schon richtig, Mr. Brodsky, ich sehe es vor mir, ich weiß, wie es ausgesehen haben muß. Verzeihen Sie, Mr. Brodsky, verzeihen Sie, ich hätte keine Minute länger hier sitzen können, ohne mir diesen Beweis... diesen Beweis meines Pfuscher-Naturells von der Seele zu reden. Was für ein Pech, daß dieses traurige Privileg ausgerechnet einem Tölpel wie mir zufallen mußte. Bitte, Mr. Brodsky, ich flehe Sie an, diese hoffnungslos unzulänglichen Entschuldigungen

Weitere Kostenlose Bücher