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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Grundschule gegangen war und zu dem sich eine ganz besondere Freundschaft ergeben hatte, als ich etwa neun Jahre alt gewesen war. Sie hatte ganz bei uns in der Nähe gewohnt, ein kleines Stück die Straße hoch, in einem Haus, das unserem recht ähnlich war, und ich war nachmittags oft hingegangen, um mit ihr zu spielen, besonders während der schwierigen Zeit vor unserem Umzug nach Manchester. Ich hatte sie seit damals nie mehr wiedergesehen, und deshalb war ich höchst verblüfft angesichts ihres anklagenden Verhaltens.
    »Ach ja«, sagte ich. »Gestern abend. Ja.«
    Fiona Roberts schaute mich unverwandt an. Vielleicht hing es mit dem vorwurfsvollen Blick zusammen, den sie zur Schau trug, auf jeden Fall erinnerte ich mich ganz plötzlich an einen Nachmittag aus unserer Kinderzeit, als wir beide unter dem Eßtisch ihrer Eltern gesessen hatten. Wir hatten uns wie üblich unseren »Schlupfwinkel« geschaffen, indem wir allerlei Decken und Vorhänge seitlich an dem Tisch herunterhängen ließen. An jenem besonderen Nachmittag war es sonnig und warm gewesen, doch wir hatten darauf bestanden, in unserem Schlupfwinkel, in der stickigen Hitze und dem Halbdunkel sitzen zu bleiben. Ich hatte gerade etwas zu Fiona gesagt, ich hatte wohl lange und recht aufgeregt gesprochen. Mehrfach hatte sie versucht, mich zu unterbrechen, doch ich hatte immer weiter geredet. Als ich dann schließlich zum Ende gekommen war, hatte sie gesagt:
    »Das ist dumm. Das heißt ja, daß du ganz allein sein wirst. Du wirst einsam sein.«
    »Das macht mir nichts aus«, hatte ich geantwortet. »Ich bin gern einsam.«
    »Du bist einfach dumm. Keiner ist gern einsam. Also ich habe später mal eine große Familie. Mit mindestens fünf Kindern. Und ich koche ihnen jeden Abend ein tolles Abendessen.« Als ich darauf nichts erwiderte, sagte sie noch einmal: »Du bist einfach dumm. Keiner ist gern allein.«
    »Ich wohl. Ich mag das.«
    »Wie kannst du das mögen , wie kannst du gern allein sein?«
    »Das ist nun mal so. Ich mag das eben.«
    Ich hatte diese Behauptung tatsächlich mit einiger Überzeugung vorgebracht. Denn an dem Nachmittag war es schon mehrere Monate her, daß ich meine »Übungsstunden« begonnen hatte; ja, diese besondere fixe Idee mußte um die Zeit herum wohl gerade ihren Höhepunkt erreicht haben.
    Meine »Übungsstunden« hatten sich ergeben, ohne daß ich sie eigens geplant hätte. Eines grauen Nachmittags hatte ich allein auf der Straße gespielt – ganz versunken in meine Phantasiewelt war ich in einen ausgetrockneten Graben zwischen einer Pappelreihe und einem Acker gesprungen und immer wieder herausgeklettert -, als mich plötzlich eine Art Panik erfaßte und ich das Bedürfnis nach der Gesellschaft meiner Eltern verspürt hatte. Unser Haus war ganz in der Nähe – ich konnte die Rückseite des Hauses am anderen Ende des Ackers sehen -, doch das Gefühl der Panik war schnell angewachsen, bis ich beinahe überwältigt wurde von dem Drang, durch das hohe Gras schnell nach Hause zu laufen. Doch aus irgendeinem Grund – vielleicht hatte ich das Gefühl sofort mit mangelnder Reife in Verbindung gebracht – hatte ich mich gezwungen, mein Weglaufen noch hinauszuzögern. Tief in meinem Innern hatte es jedoch keinen Zweifel daran gegeben, daß ich sehr bald schon über den Acker rennen würde. Es war einfach nur darum gegangen, diesen Moment mit reiner Willensanstrengung noch einige Sekunden aufzuschieben. Diese merkwürdige Mischung aus Angst und Heiterkeit, die ich verspürte, als ich wie gelähmt in dem ausgetrockneten Graben stand, sollte ich in den darauffolgenden Wochen noch sehr gut kennenlernen. Denn nur einige Tage später waren meine »Übungsstunden« schon regelmäßiger und wichtiger Bestandteil meines Lebens geworden. Im Lauf der Zeit waren sie zu einer Art Ritual geworden, so daß ich, kaum daß sich die ersten Anzeichen meines Dranges, nach Hause zu laufen, bemerkbar machten, zu einer bestimmten Stelle der Straße unter eine mächtige Eiche ging, wo ich dann einige Minuten stehenblieb und meine Gefühle niederkämpfte. Oft entschied ich, daß ich lange genug durchgehalten hätte und jetzt loslaufen könnte, nur um dann wieder einen Rückzieher zu machen und mich dazu zu zwingen, noch ein paar Sekunden länger unter dem Baum auszuharren. Ganz zweifellos war da ein merkwürdiger Kitzel, der bei diesen Gelegenheiten mit der ansteigenden Angst und Panik einherging, ein Gefühl, das wohl für die fast schon unwiderstehliche

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