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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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würde ihr ja gern irgendwie helfen, bloß, sie ist so schrecklich langweilig.‹ Ich höre sie schon, sie werden sich köstlich amüsieren. Und Inge, tja, irgendwie wird sie sehr wütend sein. ›Dieses kleine Luder hat uns reingelegt‹, wird sie denken. Aber sie wird sich auch freuen, sie wird erleichtert sein. Denn weißt du, sosehr Inge auch der Gedanke gefallen hat, daß ich dich kenne, hat sie das doch auch als Bedrohung empfunden. Das habe ich deutlich gespürt. Und die Art, wie die anderen mich in den letzten Wochen, seit du geantwortet hast, behandelt haben, wird ihr wohl irgendwie zu denken gegeben haben. Sie wird wohl irgendwie hin und her gerissen sein, wie die anderen auch. Na, jedenfalls werden sie sich heute vormittag köstlich amüsieren, das weiß ich sicher.«
    Während ich Fiona zuhörte, spürte ich, daß ich wegen des vergangenen Abends immense Gewissensbisse hätte haben müssen. Doch trotz ihrer lebhaften Schilderung der Ereignisse in ihrer Wohnung und obwohl sie mir wirklich leid tat, mußte ich feststellen, daß ich mich nur sehr vage daran erinnerte, ein solches Ereignis auf meinem Terminplan gehabt zu haben. Ganz abgesehen davon hatte ich bei ihren Worten geradezu schockiert erkennen müssen, wie wenig ich bisher daran gedacht hatte, daß die Ankunft meiner Eltern in dieser Stadt unmittelbar bevorstand. Wie Fiona bereits erwähnt hatte, ging es beiden Eltern inzwischen gar nicht so gut, und man konnte sie wohl kaum sich selbst überlassen. Und als ich dann auch noch hinausschaute und den dichten Verkehr und die gläsernen Bauten vorüberziehen sah, überkam mich das Gefühl eines intensiven Beschützerinstinktes meinen alten Eltern gegenüber. Es wäre wirklich die ideale Lösung, wenn eine Gruppe einheimischer Frauen sich um ihr Wohlergehen kümmerte, und es war außerordentlich dumm von mir gewesen, daß ich die Gelegenheit nicht ergriffen hatte, diese Frauen kennenzulernen und mit ihnen zu reden. Allmählich stieg Panik in mir hoch, wenn ich an das Problem mit der Betreuung meiner Eltern dachte – ich mochte kaum glauben, wie wenig Beachtung ich diesem Aspekt meines Besuches gewidmet hatte -, und einen Augenblick lang überschlugen sich meine Gedanken. Plötzlich sah ich meinen Vater und meine Mutter vor mir, beide klein, weißhaarig und vom Alter gebeugt, ich sah sie vor dem Bahnhof stehen, von Gepäck umgeben, das sie alleine unmöglich fortbewegen konnten. Ich sah sie die fremde Stadt anschauen und sah dann, wie mein Vater, dessen Stolz schließlich die Oberhand über die Vernunft gewinnt, erst zwei, dann drei Koffer hochhebt, während meine Mutter vergeblich versucht, ihn davon abzuhalten, indem sie mit ihrer schmalen Hand seinen Arm hält und sagt: ›Nein, nein, die kannst du nicht tragen. Das ist viel zu schwer.‹ Und mein Vater, sein Gesicht vor Entschlossenheit ganz verhärtet, schüttelt meine Mutter ab und antwortet: ›Aber wer soll sie denn sonst tragen? Wie sollen wir denn sonst in unser Hotel kommen? Wer sonst soll uns denn hier helfen, wenn wir uns nicht selber helfen?‹ Und das alles, während Autos und Lastwagen an ihnen vorüberdonnern und Pendler an ihnen vorbeieilen. Ich sehe meine Mutter, die traurig und resigniert meinen Vater dabei beobachtet, wie er unter seiner schweren Last schwankt, vier Schritte, fünf, und wie er dann schließlich aufgibt, die Koffer abstellt, er läßt die Schultern hängen, er atmet schwer. Dann sehe ich, wie meine Mutter nach einer Weile zu ihm geht und ihm sanft die Hand auf den Arm legt. ›Ist schon gut. Wir werden schon jemanden finden, der uns hilft.‹ Und mein Vater hat jetzt auch resigniert, ist vielleicht zufrieden, weil er wenigstens Unternehmungsgeist demonstriert hat, schaut ruhig auf das Getriebe vor sich und sucht nach jemandem, der womöglich gekommen ist, um ihnen zu helfen, der sich um ihr Gepäck kümmern würde, sie willkommen heißt und sie in einem komfortablen Auto in ein Hotel fährt.
    All diese Bilder sammelten sich in meinem Kopf, während Fiona sprach, so daß ich eine ganze Weile kaum in der Lage war, ihre eigene unglückliche Lage zu bedenken. Doch dann hörte ich sie sagen:
    »Sie werden darüber sprechen, daß sie in Zukunft vorsichtiger sein müssen. Ich höre sie schon. ›Wir haben jetzt so viel mehr Ansehen, da passiert es ganz zwangsläufig, daß alle möglichen Leute versuchen, sich bei uns einzuschleichen. Wir müssen vorsichtig sein, besonders jetzt, wo wir so viel Verantwortung tragen. Das kleine

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