Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
denn in diese dummen Viecher gefahren? Gönnten sie einem nicht mal ein bisschen Ruhe am Nachmittag?
Sie hörten nicht auf, und erst als der Abend sich senkte und Sidonie Federspiel noch immer in ihrem Sessel saß und schlief, kam mir der Gedanke, dass sie womöglich nicht mehr aufwachen würde.
Ohne auch nur zu blinzeln, beobachtete ich sie. Eine Stunde, zwei, drei, fünf. Sie rührte sich nicht. Die Katzen schrien weiter und drängten in den Flur.
Madame Federspiel wachte nicht mehr auf. Sie war mitten in ihren schönsten Erinnerungen eingeschlafen.
Wie sehr unterschied sich dieser Tod von Ninas. Zehn Jahre lagen dazwischen, zehn Jahre, die dieser alten Dame geschenkt worden waren, zehn Jahre, die Nina nie hatte erleben dürfen. Sie war so klein gewesen. Es war so falsch gewesen. Und Madame Federspiel? Sie hatte ihr Leben genossen, sie hatte ihr Leben gelebt, ihre Zeit war einfach von ganz alleine abgelaufen – von einer Hälfte der Sanduhr in die andere. Ninas Sanduhr war zu Bruch gegangen, als die obere Hälfte noch fast voll war. Sie war zerborsten, und der Sand hatte sich verteilt, war vom Wind davongetragen worden in alle Himmelsrichtungen.
Ich spürte keine Trauer, nur das leise innerliche Seufzen, dass ich wieder einen Menschen überlebt hatte.
Den bevorstehenden Wechsel in das neue Jahrtausend erlebte ich bereits in Ferdinands winzigem Puppenladen. Nachdem die Katzen drei Tage lang Radau gemacht hatten, hatte eine Nachbarin die Polizei gerufen. Dann wurden die Katzen ins Tierheim, die Möbel auf den Sperrmüll und das Inventar zum Trödler gegeben. Ich gehörte zum Inventar. Der Rest ist Geschichte.
9
I mmer wieder habe ich in den vergangen Stunden das Kreischen der Jet-Motoren gehört, wenn sie die Flugzeuge in den Himmel trieben.
Ich habe viel nachgedacht.
Wie unzählige Male zuvor warte ich darauf, dass jemand mich und mein Schicksal in die Hand nimmt und darüber entscheidet. Wenn ich zurückschaue, kann ich mit Stolz sagen, dass ich meinen Job gut gemacht habe. Mein Leben, das Leben des Henry N. Brown, ist ein erfülltes, aufregendes, abwechslungsreiches und bewegtes Leben gewesen – auch wenn ich der Ansicht bin, dass es nicht zwangsläufig schon vorüber sein müsste.
Ich höre Schritte.
Jemand kommt herein und nimmt mich aus der Wanne.
Ich fühle alles und nichts.
»So«, sagt ein fremde Stimme, »jetzt wollen wir doch mal sehen, womit du uns so viel Scherereien bereitest.«
Kommt und holt mich. Schaut euch die Liebe an, die mein Leben bestimmt hat. Haltet sie in euren Händen und fühlt, wie sie pulsiert. Vielleicht hilft es euch. Vielleicht erweckt es in euch den Glauben an das Gute zu neuem Leben. Vielleicht schöpft ihr Mut. Vielleicht werdet auch ihr euch dann ein Leben lang an mich erinnern. An Henry N. Brown, den Bären, der die Liebe in sich trug.
Aus dem Augenwinkel sehe ich ein Teppichmesser auf mich zukommen und erwarte den ersten Schnitt.
EPILOG
W arme Sonnenstrahlen fallen durch das lichte Laub der Birke vor dem Fenster. Eine blaue Meise sitzt auf einem Ast und zwitschert ihr Lied.
Die Schriftstellerin stellt ihre Teetasse auf dem Schreibtisch ab, lässt sich auf dem Bürostuhl nieder und schaltet ihren Computer an.
Auf dem Bücherstapel neben ihr liegt ein Stück schwarzer Samt. Mit dem Daumen streicht sie den glänzenden Stoff glatt, dann öffnet sie die Schreibtischschublade und lässt ein goldenes Herz in ihre Hand fallen. Es ist aus Gold und glitzert im Sonnenlicht. So also sieht die Liebe aus.
Mit dem Daumennagel betätigt die Schriftstellerin einen winzigen Mechanismus, und der Deckel des Schmuckstücks springt auf. Sie schiebt ihre Brille hoch, um besser sehen zu können, obwohl sie die Gravur schon längst auswendig kann. Halblaut liest sie: »A & W. May our hearts beat like one.«
Sie lächelt und hebt den Blick. Sie legt den Kopf ein wenig schräg.
»Na, dann wollen wir mal, was, Henry?«, sagt sie und zwinkert mir zu.
Mein Herz klopft vor Aufregung, ich zwinkere von meinem Platz in der Kirschholzvitrine aus zurück.
Sie beginnt zu schreiben.
* Das Zitat ist dem Buch »Zimmer mit Aussicht« von E. M. Forster entnommen. Zitiert nach der Übersetzung von Werner Peterich. München 1986.
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