Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
derweil in Ohnmacht. Mir gefielen diese Besuche ganz und gar nicht, nicht, weil ich, wenn ich ein Gehirn herausrutschen sah, zu Boden ging, sondern weil ich Angst hatte, wiedererkannt zu werden, oder genauer, weil ich Angst hatte, mich selbst wiederzuerkennen. Übrigens war der Zaun entfernt worden, als ein Schritt der Humanisierung und Modernisierung von Irrenhäusern. Trotzdem sangen die Studenten Da ist ein Loch im Zaun von Gaustad , wenn wir die Holmenkollenbahn zurück in die Stadt nahmen. Und diejenigen, die ohnmächtig geworden waren, sangen gern am lautesten und schrillsten. Und ich stimmte ein und sang möglicherweise am lautesten im ganzen Wagen. Es wurde besser, als der klinische Unterricht in die neue psychiatrische Klinik im Blindernveien 85 verlegt wurde, diese öffnete 1926 und ähnelte einem prachtvollen Gutshof, auf dem die langsamen und bei weitem nicht so prachtvollen Gäste sich in dem sorgfältig angelegten Garten vergnügen konnten, Laub harken, Rasen mähen, Rosen beschneiden, Äpfel und Stachelbeeren pflücken. Badminton konnten sie auch spielen, etwas, wovon ich, fachlich betrachtet, abraten würde. Aber was mir im Gegensatz zu den anderen Studenten jedenfalls am besten gefiel, das war die neue Forderung nach »Bestätigung vom Leiter des Anatomischen Instituts über zufriedenstellend durchgeführte Dissektionsübungen«. Obduktion sollte nicht länger ein theoretisches Geschäft sein, was in Anbetracht der Wichtigkeit der Obduktion lächerlich und nicht zuletzt unverantwortlich war, denn sie wird im Interesse der Menschheit durchgeführt, sie bringt die ärztliche Wissenschaft voran. Obduktion theoretisch! Diese Zerlegungen fanden im Rikshospital statt, im dortigen Leichenkeller, der unter Studenten als Mäusehalle bezeichnet wurde. Wir waren immer zu zweit an einer Leiche, aber meistens übernahm ich bald das Kommando und machte den Zweiten zu meinem Assistenten. Diese Leichen waren meistens Wohnungslose, Namenlose, Obdachlose, Trinker, Prostituierte, gern alles auf einmal, mit anderen Worten Menschen oder ehemalige Menschen, denn auf den Tischen in der Mäusehalle waren sie keine Menschen im direkten Sinne mehr, also jemand, den niemand vermisste, und von dem viele der Meinung waren, dass die Gesellschaft gut und gern auch ohne sie zurechtkommen könnte, der Abschaum, aber dachten diese Leute auch daran, dass diese armen Kerle, der Abschaum, nach ihrem Tod von großem Nutzen waren? Hätten sie dann nicht auch ein vernünftiges Leben verdient gehabt, während sie lebten, eine Art Vorschuss? Übrigens hatten einige Bessersituierte und andere Idealisten im Voraus das, was ihre Leiche werden sollte, der Wissenschaft gespendet. Diese enthielt meistens Schrumpfleber, Fettherz, Nierenversagen, verstopfte Arterien, schwarze Lunge. Aber hier war meine Hand sicher und ruhig. In der Mäusehalle, unter den Toten, war ich unübertroffen. Ich konnte mit einem einzigen Schnitt den Leib öffnen und dessen Hohlräume und Geheimnisse lüften. Ja, ich wurde ein Vorbild und Exempel für die anderen Studenten in dieser Disziplin, und sie scharten sich um mich, wenn ich schnitt. An Wein, Weib und Gesang gab es dagegen nur wenig oder gar nichts, um genau zu sein. Aber bald sollte es zumindest Wein geben. Wenn ich nicht von einer Lesung zur anderen lief, saß ich daheim im Skovveien, unter der Standuhr, das Licht in den anderen Zimmern ausgeschaltet, um Strom zu sparen oder um nicht gesehen zu werden, mein Gott, von wem denn, und ich las, paukte, lernte alles auswendig, diese verdammte Chemie, die ebenso verdammte Botanik, ich knackte mit den Fingern, schnaubte, las und trampelte, repetierte Latein, studierte Anschauungstafeln, stellte ein eigenes System auf, das Alphabet des Körpers: Arterien, Becken, Nebenhöhlen. Ich musste den anderen die ganze Zeit voraus sein, um mit meinem Jahrgang Schritt zu halten, und bestand den ersten Abschnitt, und auf diese Art und Weise wurde das sorglose, gedankenlose Leben, das fast von uns erwartet wurde und das ich selbst, wenn auch widerstrebend, ebenfalls erwartet hatte, unmöglich. Unsere Zeit ist zu kurz. Wir brauchen größere Ellenbogenfreiheit. Weil wir das meiste mindestens zwei Mal machen müssen, sollte unser Durchschnittslebensalter nicht 77 Jahre, sondern 154 betragen. Dann wären wir gleichgestellt. Eines Morgens lag übrigens eine Nachricht von der Studentenvereinigung auf meinem Pult im Lesesaal im Domus Medica. Ich öffnete den Umschlag und bemerkte dabei, dass
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