Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
sitzen.
»Du solltest deine Mutter besuchen«, sagte Notto schließlich.
»Und warum?«
»Weil sie das vielleicht verdient hat. Mütter verdienen so sonderbare Dinge.«
Ich faltete den Brief so oft zusammen, wie man einen Bogen Papier nur zusammenfalten konnte, es wurde mein persönlicher Rekord, sechzehn Mal, und legte ihn dann in die kleinste Tasche, die ich tief in einer Jacke finden konnte, die ich nie wieder anziehen wollte. Dann öffnete ich die Standuhr noch einmal und versteckte das kleine Etui mit den schwarzen Drops ganz unten in der Ecke, unter dem Pendel. Übrigens schaute ich nie wieder dort nach. Es kommt vor, dass ich es bereue. Aber meistens ist es so, dass ich wütend werde oder gleichgültig. Als ich das nächste Mal von meiner Mutter hörte, viele Jahre später, war sie tot.
Requiescat in pace.
GUTE UND SCHLECHTE ZENSUREN
Meine Mutter fuhr also ab, zusammen mit ihrer Signe, so weit weg, wie es nur möglich war, und sie ließ mich, den Studenten, elternlos und allein im Skovveien zurück, mit den Zinseszinsen auf einem Konto der Bank und einem Stapel solider Scheine, sicherheitshalber, in einer Keksdose in der Küche. Wer wäre da nicht neidisch? Was soll man mit einer Mutter, wenn man Student ist? Eine Mutter, die steht einem doch nur im Weg bei dem freien Leben. Ich jubelte. Ich drehte mich um mich selbst und schlug vor lauter Freude einen Salto mortale. Dann ramponierte ich die Wohnung, riss Dinge herunter, machte sie mir zu eigen, schuf sie gewissermaßen nach meinem Abbild neu. Das war kein schöner Anblick. Ich weiß nicht, wie oft ich das Bett in ein anderes Zimmer zog, aber was nützte das, wenn ich das Sofa an die andere Wand schob, die Stühle austauschte, die Tische drehte und die Teppiche wechselte, ohne dass es etwas veränderte, und am nächsten Morgen stellte ich alles wieder genau an denselben Platz zurück. So konnte es nicht weitergehen. Ich konnte nicht einmal die Lampen in Ruhe lassen, das heißt die Lichtschalter. Wenn jemand draußen auf der Straße stand und meine Fenster ansah, konnte er glauben, die ganze Wohnung hätte einen Schluckauf. Am Schluss wurde es so schlimm, dass ich, sobald mein Blick auf ein Möbelstück fiel, es brauchte nicht größer als ein Hocker, ein Schemel zu sein, es umstellen musste. Eines Tages, als ich auf dem Weg zur Universität war, musste ich sogar bei Knag am Drammensveien stehen bleiben, es kam einfach mit so heftiger Wucht über mich, ich schoss hinein in den Laden und schob die erste beste Chaiselongue zur Seite, auf die ich stieß, ja, ich war kurz davor, das ganze Knag umzumöblieren, bevor ich von zwei Verkäuferinnen hinausgeworfen und mit der Polizei und Schlimmerem bedroht wurde. Ich ging schnurstracks wieder heim, ließ Vorlesung Vorlesung sein. Ich konnte selbst lernen. Ich war also dabei, einen neuen, anstrengenden Zwang zu entwickeln, einen Zwang, der im Gegensatz zu meinem bisherigen Repertoire, das ich trotz allem in gut einer Stunde absolvieren konnte, bald meine gesamte Zeit in Anspruch nehmen würde. Es war in jeder Hinsicht zerstörerisch. Ich musste ab sofort Möbelgeschäften aus dem Weg gehen, großen wie kleinen, und Einladungen ausschlagen, falls ich welche bekam, ich lief ja Gefahr, auf das Inventar des Gastgebers loszugehen. Ich schloss es auch nicht aus, dass ich mich für den Rest meines Lebens in meiner Wohnung aufhalten und meine eigenen Möbel traktieren musste. Schließlich gab es überall Möbel, in Läden, Restaurants, auf den Fußwegen, und nicht zuletzt Lichtschalter, die Welt war voller Lichtschalter. Mit anderen Worten: ich musste einen Zwang finden, der den neuen ersetzen konnte, und da gab es nur eins: Ich musste stattdessen auf mich selbst losgehen, nicht wirklich schlimm, nur gnadenlos. Es war ausschließlich mein eigener Leib, der büßen sollte, nicht die Umgebung. Diese Einsicht war eine Offenbarung, eine Erleichterung, die mir fast den Verstand raubte, und niemand außer uns, den Kantigen, weiß, wie viel es kostet, so weit zu kommen, und dennoch ist es vergeblich. Denn der Leib ist nichts, wenn er sich selbst genügt. Der Leib muss früher oder später in Kontakt zu anderen Leibern treten, auf die eine oder andere Art und Weise. Was ich bald zu spüren bekommen sollte. Aber wie dem auch sei, ich fand jedenfalls einen anderen Zwang und konnte schließlich die Möbel in Frieden lassen: Ich knackte stattdessen mit den Fingern. Mit der rechten Hand beugte ich die Finger der linken. Dieses
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