Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
nicht in Ordnung? Ich stand auf, repetierte das Pensum, leerte die nächststehende Flasche, Gläser benutzte ich nicht mehr, denn so war das Studentenleben, oder etwa nicht, mit einem Vater, so begraben, wie es nur geht, und einer Mutter, weiter weg, als es überhaupt möglich ist. Drei Mal ein dreifaches Hurra! Hört nur alle meine Aufgaben ab: von Austernschalen , einem Bestandteil der Mixtura Alba bis zur Zyste , also einer Schwellung! Ich kenne das Alphabet der Medizin vom ersten bis zum letzten Buchstaben, Austern und Zysten, welch herrliches Entrée und Sorti! Damit kann man leben. Ich kann schnauben, trampeln, schlucken, knacken, zählen, fechten, rudern, meine tic convulsif machen und Salto mortale schlagen, rückwärts gehen und mich trotzdem draußen unter Menschen bewegen, im Schutze einer Willensstärke und Beherrschung und, wenn ich das hinzufügen darf, einer gewissen Form von Humor, der nicht verstanden wurde von diesen übersensiblen, gewissenlosen und empfindlichen Betrügern im Domus Medica, die bald auf das norwegische Volk losgelassen werden sollten, mit Segnung durch den königlichen Thron, bewaffnet mit Skalpellen, Messern, Scheren und anderen scharfen Gegenständen. Oh, ich würde sie alle einholen! Oder etwa nicht? Ich würde sie am liebsten zusammenschlagen. Woran man übrigens sterben kann, wie Doktor Lund so vorsichtig und rücksichtsvoll in Doktor Lunds kleinem Abschnitt über den Alkoholismus andeutet. Seine Sentenz bezüglich Unarten ist ebenfalls exzellent: Wildwuchs am Lebensbaum. Das klingt wie die reine Poesie.
Doch meine finsteren Verabredungen waren eine umgekehrte Schwangerschaft und ein darauffolgendes Mirakel. Von Austern bis Zyste. Sie endeten in einem kurzen, schmachvollen Untergang und einer entsprechend großartigen Wiederauferstehung. Im April klingelte es nämlich an der Tür. Niemand klingelte an meiner Tür. Ich blieb eine ganze Weile still sitzen. War es Tag oder Nacht? Ich schob die Gardine zur Seite und wurde von dem Licht fast erschlagen, ein Säbel, der den Raum zerteilte und die Standuhr mit zehn todbringenden Schlägen traf. Wieder klingelte es. Ich schlich mich hinaus auf den Flur, immer noch verschlafen und verwirrt. Waren es Nachbarn, die sich beschweren wollten? Hatte ich letzte Nacht zu viel Lärm gemacht? War es Alfred, mein treuer Chauffeur, der etwas von mir wollte? Oder war es, Gott steh mir bei, meine Mutter, die von der Rückseite des Globus zurückgekehrt war? Derjenige oder diejenigen, die draußen standen, klopften jetzt direkt an die Tür, nein, sie hämmerten. Ich schaute durch das Schlüsselloch, zuerst konnte ich gar nichts sehen, dann entdeckte ich einen Stock, die Hand, die ihn hielt, und einen Siegelring. Es war Doktor Lund. Sofort machte ich einen Purzelbaum, hatte aber wohl nicht genug Kraft oder war zu unbeholfen, jedenfalls landete ich auf dem Bauch, verlor die Puste und hörte Doktor Lunds kräftige Stimme aus dem Treppenhaus:
»Bernhard Hval! Ich weiß, dass du da bist! Sei nicht kindisch und mach auf!«
Ich blieb vollkommen reglos liegen.
Wenn ich lange genug so liegen blieb, würde alles verschwinden und wie früher sein. Wie früher?
Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie es früher gewesen war. War das die Kindheit? Oder war es gestern?
Mucksmäuschenstill blieb ich liegen.
Wieder hörte ich Doktor Lunds Stimme, dieses Mal ungehaltener:
»Um Gottes willen, Bernhard! Ich schlage die Tür ein, wenn es sein muss!«
Ich kam auf die Füße und öffnete.
Obwohl es dunkel im Eingang war und die Beleuchtung im Treppenhaus auch nicht besonders hell schien, wich Doktor Lund zwei Schritte zurück, offenbar schockiert von dem Anblick, der sich ihm bot, also mir, und Doktor Lund war ein Mann, der schon so ziemlich alles gesehen hatte, was das menschliche und unmenschliche Elend betrifft. Er holte tief Luft, ging schnell an mir vorbei, schob die Tür mit dem Stock hinter sich zu, machte Licht und fragte:
»Hast du einen Spiegel?«
»Was?«
»Du hast gehört, was ich gesagt habe. Hast du einen Spiegel?«
»Ja. Im Bad.«
»Dann gehen wir dorthin, damit du dich genau im Spiegel betrachten kannst.«
Das widerstrebte mir. Ich stellte mich gegen den geschätzten Doktor Lund.
»Warum das?«
»Das wirst du gleich verstehen.«
Und Doktor Lund packte mich im Nacken und zog mich fast wie einen ungezogenen Schuljungen ins Bad, das hinter dem Schlafzimmer lag, und in jedem Zimmer, das wir durchquerten, schaltete er mindestens eine
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