Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
hätte Vater nicht leben können. An Gerüchten dagegen stirbt man nicht, und er wusste auch nichts von diesen Gerüchten, über ihn und die Mädchen, und wenn sie wahr gewesen wären, was sie also nicht waren, dann wäre er nicht der Einzige auf diesem Hügel westlich von Oslo gewesen, der etwas mit der Dienerschaft hatte. Man kann ja viel über meinen Vater sagen, aber ein Mann von Ehre, das war er, dieser Idiot, und diese verfluchte Ehre sollte uns teuer zu stehen kommen.
Wenn ich jetzt sowieso schon so weit gekommen bin, kann ich gern noch ein wenig fortfahren:
Als ich nach meiner Flucht vom Apfelbaum die Augen öffnete, starrten mehrere Gesichter auf mich herab. Ich erkannte sie bald wieder. Es waren der Kutscher Alfred, das Hausmädchen Beate und mein Vater, der selige Oscar Hval. Ich lag auf dem Rücken im Gras. Von hier aus hatte ich die Welt noch nie gesehen. Der Himmel stand vollkommen still. Aber die Wolken wechselten Form und Muster, genau wie die Segelboote auf dem Fjord. Vaters Gesicht war mir am nächsten.
»Bernhard? Hörst du mich?«
»Ja, Vater.«
»Was ist passiert?«
»Habe Äpfel gepflückt.«
»Die sind doch noch gar nicht reif, du Dummkopf. Aber deshalb blutest du doch wohl nicht?«
Plötzlich sagte ich etwas, es platzte einfach aus mir heraus, als müsste ich es loswerden, ein Wort, das ich meinen Vater hatte sagen hören, wenn er ausnahmsweise einmal wütend war auf Mutter, und es war das extremste Wort in seiner gesamten Sprache.
»Zum Teufel!«
Vater öffnete den Mund, ich konnte alle Zähne sehen, riesig und scharf, sowohl oben als auch unten, während der Fahrer und Beate zur Seite wichen oder näher kamen, und es war so herrlich, dieses Wort zu sagen, vielleicht war ja auch Blut an ihm. Ich war die gespannte Saite am Bogen, die endlich den Pfeil loslassen konnte. Ich sank noch tiefer in den feuchten Boden. Das Gras war ein Himmelbett. Ich wollte schlafen. Doch es dauerte nicht lange.
» Was hast du gesagt?«
Im selben Moment war es zu Ende mit der Herrlichkeit, und sie wurde von einer anderen Grimasse abgelöst, die ich noch nicht benennen konnte, die ich jedoch bald kennenlernen würde, besser als jeder andere. Und wenn meine Nervenstränge mit der Holmenkollenbahn verglichen werden könnten, wäre ich schnell an allen Haltestellen ausgestiegen. Sie hießen Erleichterung, Furcht, Seligkeit, Scham. Es war nur zu hoffen, dass Scham nicht die Endstation war, 442 Meter über dem Meeresspiegel.
»Ich glaube, ich bin runtergefallen«, flüsterte ich.
»Runtergefallen?«
»Ja, Vater.«
»Bist du auf den Baum geklettert?«
»Ganz hoch.«
Vaters Gesicht veränderte sich.
»Ganz hoch? Ausgezeichnet. So soll es sein!«
Dann trug er mich ins Haus, und Beate, die gleichzeitig verlegen und stolz zu sein schien, versorgte meine Wunden an den Händen und im Mund, ohne ein Wort zu sagen oder meinen Blick nur ein einziges Mal zu erwidern, während der Fahrer draußen im Garten blieb und im Gras nach den beiden Schneidezähnen suchte. Aus irgendeinem Grund fand er sie nie, und das war eigentlich auch nicht so wichtig.
Mutter kam erst zum Essen herunter, um Punkt sieben Uhr, und aß nichts.
Vater dagegen war gut gelaunt und erzählte:
»Ich kann euch berichten, dass wir den Betrieb erweitern werden. Vom heutigen Tag an heißt es nicht mehr Hvals Nadelfabrik. Wir heißen Hvals Nadeln & Industrie. «
Er hob sein Glas, schaute Mutter an und wartete auf einen Kommentar.
Doch der kam nicht.
Er trank, stellte sein Glas ab und sagte:
»Das bedeutet unter anderem, dass wir auch Angelhaken produzieren und eine Reihe lokaler Betriebe im Ausland gründen werden, um die Schutzzölle zu umgehen, und gleichzeitig können dadurch die Transportkosten gesenkt werden. Wir geben Leuten Arbeit und sehen großem Reichtum entgegen.«
Vater hob erneut sein Glas, er bettelte um Applaus, doch es nützte nichts.
Beate räumte die leeren Teller ab, schnell, lautlos, geduckt, als wollte sie sich unsichtbar machen.
Vaters Laune war nicht mehr so strahlend.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
Mutter schien von Männern genug zu haben.
»Ja.«
»Und hast du dem nichts hinzuzufügen? Nicht einmal ein kleines Hurra?«
Mutter wartete, bis Beate verschwunden war.
»Ich werde morgen nach Wörishofen fahren.«
Vater stellte sein Glas ab.
»Schon wieder?«
»Ja. Oder ist etwas?«
»Ich bin ja wohl derjenige, der diese Frage stellen sollte.«
Mutter hob ihr Glas.
»Ich brauche Pflege.«
Vater
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