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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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konnte ich mich jetzt nicht kümmern. Wir gingen einen engen Flur entlang, der nach rechts abfiel, es war, als wären wir an Bord eines sinkenden Schiffes, und schließlich blieben wir vor der letzten Tür stehen.
    Die Pensionsmutter klopfte an.
    Niemand öffnete.
    Ich klopfte an.
    Auch dieses Mal kein Erfolg, es war kein Geräusch aus Zimmer elf zu hören. Vielleicht lag er da und schämte sich, weil er seine Tour nicht beendet hatte? Vielleicht war er bereits tot?
    »Notto Fipp! Hier ist Bernhard Hval!«
    Als riefe ich in den Wald.
    Stattdessen wurden die anderen Türen weit aufgerissen, und eine bunte Schar von Passagieren, Männer wie Frauen vom untersten Deck, Kupfernasen und Rotschöpfe, Große wie Kleine, steckten ihre Köpfe heraus, neugierig, erschrocken und halbnackt. Es gab offensichtlich Seiten an diesem Etablissement, die das Tageslicht scheuten. Das war kein Geheimnis.
    »Hat jemand Notto gesehen?«, fragte die Pensionsmutter.
    Niemand hatte ihn gesehen. Niemand hatte überhaupt etwas gesehen. Sie waren auffällig blind.
    Und die Pensionsmutter wurde blass, denn von Todesfällen und Verbrechen wollte sie nichts wissen. Das war nicht gut für den Ruf, auch wenn Alvims bereits mehr als einem Vagabunden, der nach Oslo gekommen war, um sein Glück an der Vaterlandsbrücke zu suchen, Herberge gewährt hatte. Nein, Gerüchte waren eine Sache, die Wahrheit eine andere. Sie war viel schlimmer. Sie drohte mit der Faust, und die Gäste und Kunden zogen sich sofort zurück, alle zugleich, widmeten sich wieder ihren dunklen Geschäften.
    »Ich hole den Schlüssel«, sagte sie.
    Ich schob sie beiseite.
    »Dafür haben wir keine Zeit. Gehen Sie zur Seite.«
    Ich nahm so weit Anlauf, wie in dem engen Flur möglich war.
    »Eins, zwei, tröiedüs!«, rief ich.
    Dann trat ich die Tür ein, und der Anblick, der sich uns bot, war schlimmer, als ich erwartet hatte, und selbst die Pensionsmutter, von der ich annehme, dass sie schon so einiges gesehen hatte, was es auf der menschlichen und unmenschlichen Skala und dessen Maßstab zu finden gab, verbarg ihr Gesicht in den fleischigen Händen, und ihre Finger sahen aus wie dicke Würstchen, die auf einem hellblauen Teller schwammen. Nein, Notto Fipp hatte nicht übertrieben, eher im Gegenteil. Es war schlimm. Mir kamen die Tränen. Die Schuhe standen vor einem Stuhl, ohne Absätze und Sohlen. Die Mütze hing an einem Haken, der Schirm hatte sich gelöst. Und er selbst lag auf dem Bett wie ein Skelett, zusammengeflickt mit Sicherheitsnadeln, damit nicht alles auseinanderfiel, gekleidet in die jämmerlichsten Flicken und Fetzen. Sein Gesicht war eingefallen und knochig, die Augen zu groß, der Mund zu klein, der Spitzbart wuchs in alle Richtungen, und der linke Fuß war angeschwollen und fast blau und fiel wie ein schweres Lot über den Bettrand, während das Kopfhaar aussah wie der reinste Pulverhaufen. Hier war nicht nur ein Arzt gefordert. Hier mussten auch ein Schneider, ein Friseur und ein Schuhmacher her. Ich riss mich zusammen, um meinem Ruf folgen zu können.
    »Hörst du mich, Notto Fipp?«
    Seine Augen richteten sich mit leerem Blick auf mich.
    »Ja. Das ist nicht schwer.«
    »Erkennst du mich wieder?«
    »Ich kenne nur einen Menschen mit Weste und Uhr. Bernhard Hval.«
    Notto Fipp lebte und war, soweit ich das beurteilen konnte, im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Es fehlte nur einiges an seinen physischen. Ja, da fehlte so einiges. Ich setzte mich zu ihm auf die Bettkante. Das war keine Suite mit Bad und water closet im Westminster Hotel in Nizza, Promenade des Anglais, nein, das war Alvims Herberge in Grønland, Vaterlandsbrücke, und ich hätte liebend gern mit ihm getauscht, das sage ich mit der Hand auf dem Herzen, dass ich gern getauscht hätte, mich selbst als ein Wrack auf ebendiese hartgelegene Matratze gelegt und Notto Fipp auf Hochzeitsreise geschickt hätte. Diese Idee erwähne ich nicht, um mich besser zu machen, als ich war, denn das nützt sowieso nichts, sondern um mich zumindest nicht schlechter zu machen, als ich bin.
    »Wie lange liegst du schon hier?«, fragte ich.
    »Das weiß ich nicht. Die Zeit verschwimmt.«
    Die Pensionsmutter trat nun auch herein und schaute sich um.
    »Er ist seit letzten Mittwoch hier. Und was haben Sie gedacht, was Sie mit der Tür machen wollen?«
    Notto hatte also seit fast zwei Wochen hier im Zimmer Nummer elf geschmachtet, und zwar ohne dass die Pensionsmutter nach ihm gesehen hätte. Sie ging mir auf die Nerven.

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