Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
Reißzähne austauschen, doch dann verlieren wir auch diese, langsam aber sicher, und einer nach dem anderen kullert heraus. Und im Greisenalter, das, wie die meisten wohl begreifen, das Ende der Lebenszeit bedeutet, wohlgemerkt nur für diejenigen, die es so weit bringen, riskieren wir, Gott steh mir bei, einen weiteren Zahnwechsel, es sind die Milchzähne, die wieder hervorkommen wollen, als würde jemand auf sehr hohem Niveau seine Scherze mit uns treiben, und wir werden wieder zum Kind, mit dem Gebiss des Todes. Es gibt keine Fender, wenn du anlegst. Deshalb möchte ich dies ein für alle Mal beenden, und eine Festschrift von meiner Seite kann ich nicht versprechen, eher einen Trauermarsch: Mutters Nervosität, die Hausbediensteten, die Kindermädchen, die Stecknadeln, der Roadster, der Chauffeur, der schattige Garten, Vaters Selbstmord und die ganze Chose. Ich kann ebenso gut im Garten anfangen. Es war der einzige Garten in Besserud, von dem aus man nicht den Fjord sehen konnte. Die Hecke war zu hoch und zu dicht, nicht, dass wir vergessen hätten, sie zu schneiden, oder einfach das Unkraut wuchern ließen, nein, es war gewollt, dass es so wurde. Das bedeutete nämlich, dass uns auch niemand sehen konnte. Aber ich bin nun derjenige, der im Garten steht, in dem feuchten Gras zwischen den Obstbäumen, und ich zähle die Sekunden, die unsere riesige Standuhr schlägt, die ich sogar hier draußen hören kann, und ich kann ihre Schläge kaum von meinem eigenen Herzschlag unterscheiden. Ich knirsche mit den Zähnen, um diese Geräusche zu übertönen, ich drücke mein Gesicht wie eine Ziehharmonika zusammen. Ich bin sechs Jahre alt. Es ist August. Das Licht ist klar und durchsichtig. Vielleicht höre ich deshalb so gut. Alles ist nahe und größer als ich. Nur dass ich nicht zählen kann. Deshalb schlage ich für jede Sekunde oder jeden Herzschlag eine Kerbe in die Rinde des Apfelbaums, bis meine Finger und Nägel bluten. Ich habe etwas gesehen. Und zwar vor kurzem. Ich habe etwas Sonderbares, nein, etwas Wunderbares gesehen, von dem ich nichts verstanden habe und das mich erschüttert hat. Ich genoss und verachtete es gleichzeitig, das, bei dem ich zugegen war, und, was das Schlimmste ist: Ich wurde auch noch neidisch. Vielleicht werde ich nie sagen, was ich zu sehen bekam. Es blutet. Ich kann nicht weiterzählen. Also muss ich auf den Baum klettern, was sonst, so hoch ich nur kommen kann: bis ganz nach oben. Von dort kann ich den Fjord sehen. Er ist voller weißer Kerben und fließt langsam auf eine andere Welt zu. Ich zähle, wie viele Segel ich sehen kann, ich zähle ohne Zahl, doch das ist beschwerlich, denn die Boote bewegen sich die ganze Zeit, tauschen ihre Plätze, verschwinden, in Mustern, die nie stillhalten. Das macht mich nervös, fast wütend. Ich schnappe mir einen Apfel, schlage meine Zähne in ihn, der Apfel ist hart wie ein Stein, und etwas löst sich im Mund, ein Zahn, nein, zwei, und das Blut läuft über den Apfel, während ich beide Schneidezähne ausspucke, und es ist die reine Freude, sie loszuwerden. Dann höre ich ein anderes Geräusch. Es ist die Equipage, die sich auf dem engen, gewundenen Weg, der hierherführt, nähert, und die Räder und die Hufe lassen Staub und Kies zu allen Seiten aufspritzen. Vater kommt früh nach Hause. Als ich mich umdrehe, kann ich direkt in Mutters Schlafzimmer schauen. Sie liegt immer noch im Bett, nackt, und die Hausangestellte, eine von ihnen, Beate dieses Mal, dunkelhaarig und aus dem Norden wie alle anderen, sitzt auf der Kante und zieht sich die Strümpfe an. Ich weiß nicht, was richtig oder falsch ist, ich weiß auch nicht, was ich da eigentlich gesehen habe, aber ich habe dieses deutliche Gefühl von etwas, das falsch ist, verdammt falsch, und ich muss sie warnen, muss Mutter warnen. Mutter entdeckt mich, ruft etwas, das ich glücklicherweise nicht höre, das Hausmädchen verschwindet, und ich muss wohl auch ein spezieller Anblick gewesen sein, Bernhard Hval, der einzige Erbe von Hvals Nadelfabrik , blutig oben auf dem Apfelbaum im Garten von Besserud. Mutter reißt das Fenster auf.
»Bernhard!«, schreit Mutter.
»Ja?«
»Was machst du da?«
»Gucke, wie Vater kommt«, sage ich.
Ihr scheint die Luft auszugehen, und sie wird blass und kleinlaut.
»Kommt Vater schon?«
»Ja. Er ist gleich da.«
Schnell schließt Mutter das Fenster und zieht sich ins Zimmer zurück, bis ich sie nicht mehr sehen kann. Dann falle ich kopfüber in den Schatten in das
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