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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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hohe, feuchte Gras.
    Ich könnte es dabei bewenden lassen.
    Ach, sputum!
    Im Nachhinein habe ich begriffen, dass dieser Tag im August mehr umfasste als nur diesen Tag und mehr als nur ein Datum auf meinem Kalender war. Es war der Tag, an dem ich mein Wesen entdeckte, und wusste, ohne es wissen zu können, dass ich zu den kantigen Leuten gehörte. Ich war der spitze Winkel. Ich war die Nadel, und der Tod war der Faden. Ich muss trotz allem berichten, was ich gesehen habe, und was einen derartigen Eindruck auf mich gemacht hat: Ich dachte, ich wäre allein im Haus. Ich war noch nie auf diese Art und Weise allein gewesen, nicht, dass ich mich erinnern konnte. Es war neu und herrlich. Die Uhr tickte und tickte und ließ den Fußboden erzittern. Ich lief durch alle Räume, was mir sonst nicht erlaubt war. Ich setzte mich in Vaters Ledersessel im Raucherzimmer und steckte mir seine Pfeife in den Mund, unnötig hinzuzufügen, dass auch das nicht erlaubt war, überhaupt war mir vieles nicht erlaubt, wenn ich mich recht besinne, und deshalb war es so unwiderstehlich, sich Freiheiten zu nehmen, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Ich lief in die Küche und aß Schokoladenpudding mit den Fingern. Dann ging ich die breite Treppe hinauf, die sich in der Mitte teilte und jeweils in einen Flügel führte. Ich nahm den rechten, und dort hörte ich noch etwas außer der Uhr. Diese Geräusche, die fremd und ungewohnt waren, kamen aus Mutters Schlafzimmer. Ich schlich mich dorthin, um besser hören zu können. War Mutter wieder traurig? War Mutter wütend und nervös und warf Dinge gegen die Wand? Nein, es schien nicht so, so schien es ganz und gar nicht, nein, das konnte sie nicht sein, nicht wütend, nervös oder traurig, denn das, was ich hörte, klang schön. Ich lauschte ziemlich lange, und die Geräusche nahmen an Lautstärke zu, vielleicht änderte sich auch die Tonart, von gut zu besser, viel besser. Vorsichtig öffnete ich die Tür und schaute hinein. Mutter und Beate, unser Hausmädchen, lagen aufeinander im Bett, irgendwie auf dem Kopf, Mutter zuunterst, mit dem Gesicht zwischen Beates Schenkeln, und diese lag mit dem Po in der Luft und dem Mund zwischen Mutters Schenkeln. Sie waren nackt, und die Geräusche, die verrieten, dass es ihnen gut ging, stammten von ihnen. Aber woran sich mein Blick besonders klammerte, das waren die runden Formen, die fast ineinander übergingen, die Schultern, die Arme, die Hüften, eine doppelte Frau, eine weiche, glatte Maschinerie, die Lust und Laute produzierte, keine Nadeln, und in diesem Moment, genau in diesem Moment, habe ich festgestellt, dass ich wusste, dass ich zu den Kantigen gehörte, mit allem, was das an Seligkeit, Scham, Furcht und Erleichterung mit sich brachte, genau wie auch Notto seine Veranlagung erkannte, sein Kennzeichen, auf dem Weg von und zur Schule, und in diesem Zusammenhang seine berühmten Worte äußerte: Wenn ich gehe, denke ich weniger.
    Bitte missverstehen Sie mich, oder uns, nicht. Ich sehne mich gern und oft nach Frauen, aber ich sehne mich in keiner Weise danach, so zu sein. Diese Veranlagung haben wir trotz allem nicht. Ich bin einigermaßen zufrieden mit meinem Geschlecht. Aber leider sind wir vorwiegend Männer. Es könnten gern mehr Frauen unter den Kantigen sein. Das ist wie eine Tanzschule, die aus dem Gleichgewicht gerät. Wir laufen Gefahr, alle Mann zu Mauerblümchen zu werden.
    Und dann begriff ich noch einen weiteren Zusammenhang.
    Es wurde auf Besserud über die vielen Hausmädchen und Kindermädchen, die bei den Hvals kamen und gingen, geflüstert und getratscht. Was passierte da hinter der hohen Hecke? Was trieben die da? Was tat beispielsweise Herr Hval, wenn Frau Hval »einen Ausflug machte«, wie sie es nannten, und er das Haus für sich allein hatte? Die Gerüchte wussten Bescheid. Die Gerüchte wissen alles und sehen nichts. Denn es war doch offensichtlich. Er hatte was mit ihnen, den Hausmädchen und den Kindermädchen, vielleicht sogar mit mehreren gleichzeitig, da war es doch kein Wunder, wenn sie in kurzen Abständen kamen und gingen.
    Weder Mutter noch Beate sahen mich. Ich schloss leise die Tür, und ich erzählte nie etwas davon, bis jetzt, da es keine Rolle mehr spielt. Außerdem wusste ich nicht, was ich hätte sagen sollen, wenn ich etwas hätte sagen wollen. Der Anblick, der sich mir bot, war außerhalb meines Wortschatzes. Aber hätte ich damals dennoch etwas gesagt, wäre Schande über die Familie Hval gekommen, und damit

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