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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Lichter, nur in noch mehr Farben, und die Stimmen, auch sie noch lauter, es schien, als würde das Eisen rufen, mit einem verzögerten Echo, das Coupé ausfüllen. Aber dieses Mal lehnte Mutter sich nicht hinaus. Stattdessen schloss sie das Fenster und setzte sich, schweigend, trank, und wartete, bis der Zug wieder losgefahren war. Dann sprach sie weiter, und es war offensichtlich, dass sie mit sich selbst sprach. Ich wollte es nicht hören, konnte es aber nicht umgehen.
    »Als ich dich in meinem Leib getragen habe, Bernhard, da habe ich etwas geträumt. Ich habe etwas Merkwürdiges geträumt. Ich war im siebten Monat. Ja, im siebten Monat. Dem schlimmsten Monat. Ich wollte dich raushaben. Du hast in mir getreten und geschlagen. Da habe ich geträumt, dass ich nicht rechtzeitig ins Krankenhaus gekommen bin. Nur Alfred war dabei. Er schlug in einem fort mit der Peitsche und hetzte das Pferd vor der Equipage, aber es nützte nichts. Wir kamen nicht rechtzeitig an. Ich gebar dich auf dem Friedhof Frelsers Gravlund. Alfred musste das Kind herausziehen. Aber es war kein Kind. Es war ein Fohlen. Du warst ein kleines Pferd, Bernhard. Und nicht genug damit. Mitten auf deiner Stirn wuchs ein spitzes Horn. Seitdem hatte ich eigentlich keine Lust mehr, dich zu haben, du kleines Einhorn, denn jedes Mal, wenn ich dich ansehe, genau wie jetzt, ähnelst du einem lächerlichen kleinen Tier, das es nicht gibt. Weißt du was, du Pferd? Ich bin all deine Unarten so leid, dass ich am liebsten kotzen würde.«
    Mutter ließ ein bitteres Lachen vernehmen und verstummte jäh. Ich hörte, wie sich das Glas aus ihren Händen löste und geräuschlos zu Boden fiel, und ihre Stimme zitterte. Sie war diejenige, die Angst hatte, nicht ich.
    »Du schläfst doch wohl, Bernhard?«
    Ich konnte nicht mehr zählen und fing stattdessen an, mit den Zähnen zu knirschen, denn irgendetwas musste ich tun. Ansonsten lag ich, so still ich nur konnte.
    »Bernhard? Du schläfst doch, nicht wahr?«
    Mutter setzte sich auf die Bettkante. Ihr Atem ging schwer und schnell. Dann schüttelte sie mich wach, um sicher zu sein, dass ich schlief. Ich öffnete die Augen und schaute zu ihr auf. Sie weinte. Über wen weinte sie? Nie hatte ich sie hässlicher gesehen. Sie atmete erleichtert auf.
    »Was ist denn, Mutter?«
    »Nichts, mein Junge. Ich habe nur daran gedacht, wie du im Becken gelegen hast und fast ertrunken wärst. Verzeih mir.«
    »Wo sind wir?«
    »Wir sind bald zu Hause. Schlaf jetzt. Ich wollte dich nicht wecken.«
    Mutter legte sich neben mich, obwohl sie doch ihre eigene Koje über mir hatte. Es wurde eng. Mutter nahm viel Platz ein. Außerdem roch es nicht gut aus ihrem Mund. Ich schlief erst wieder, als Alfred uns am Bahnhof Østbanen abholte. Ich schlief, während das Pferd uns durch Kristianias kühle, leere Straßen zog und weiter den steilen Hang im Westen hinauf, auf dem die Bäume bereits verwelkten und das Laub sich in gelben Kolonnen löste und den neunten Monat in die scharfe Luft zeichnete: September. Und dann wurde ich noch einmal in das dunkle Haus von Besserud getragen, an der Standuhr und dem Waffenschrank vorbei, einer neuen Haushaltshilfe überlassen, Jorunn oder Borghild, oder wie sie nun alle hießen, und sie muss stärker gewesen sein als Beate, denn Beate konnte mich jedenfalls nicht tragen, und wenn ich schon so umständlich und selbstherrlich dieses Kapitel angefangen habe, dann kann ich ebenso gut so weitermachen und den Rest meiner Kindheit in einem Schwung nehmen, damit sie so schnell wie möglich überstanden ist, diese zählebige Kindheit, die stets laut Doktor Lund andauert, bis ich sechzehn Jahre alt war, also 1916, genau bis zu dem Jahr, in dem Vater sich das Leben nahm.
    Über meine Schulzeit ist so viel zu sagen: Ich war der Beste. Ich war der Beste in der Klasse, und nicht nur das, ich war der Beste in der ganzen Schule, vielleicht sogar in der Stadt, und es ist nicht ausgeschlossen, dass ich das auch in Bezug auf das gesamte Land sagen kann, ja, wahrscheinlich stand ich an der Spitze. Ich war nicht besonders begabt. Ich wusste nur, dass ich einen Vorsprung haben musste. Ich musste vorn liegen. Ich musste die innere Bahn nehmen. Wenn nicht, würde alles ans Licht kommen, meine Unarten, wie Mutter sie nannte, die, das heißt ich, würden ans Licht kommen, und jeder würde sehen können, dass ich ein Pferd mit einem Horn auf der Stirn war. Deshalb saß ich in den Nächten da und las, paukte, rechnete, schrieb, große und

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