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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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dagegen erkältete sich und drohte damit, ihre Hoheit Kneipp zu verklagen, auch wenn er tot war, wurde jedoch überredet, stattdessen den Dampfkasten auszuprobieren. Kneipp hatte nämlich lokale Dampfbäder eingeführt, und Mutter entschied sich für das Unterleibdampfbad. Ich durfte nicht zusehen: Sie saß auf einem Stuhl mit durchlöchertem Sitz über einem dampfenden Topf, dem Heublumen, Haferhalme und Kamille zugesetzt worden waren, zehn Minuten lang, anschließend wurde sie langsam mit Fußbädern und Knieschlammpackungen abgekühlt.
    Mutter ging es besser.
    Mir nicht.
    Eines Morgens, als Mutter ihr Kurfrühstück aß, Kneippbrot, Kornkaffee und Kraftsuppe, und Fett für die Nerven bekam, hockte ich in dem flachsten Wasserbecken, knirschte mit den Zähnen und schnaubte, ich schaute mich um, schnaubte und knirschte mit den Zähnen, gekrümmte Gestalten wateten in dem schweren, klammen Dampf an mir vorbei, gebeugte Knochengerüste und Somnambule in Umhängen und engen Kappen. Ich war nicht mehr im Paradies. Gegen den Tod fließt kein Wasser. Der Wind von den Alpen brachte die Quellen des Todes zum Erzittern und schlug einen tiefen Riss in den Dampf. Da merkte ich, dass mich jemand beobachtete. Wir sind in dieser Beziehung sensibel. Andere sind aufmerksam Geräuschen oder Licht gegenüber. Ein Blick, von dem wir gesehen werden, ist gleichzeitig Geräusch und Licht. Denn wir wecken Aufmerksamkeit. Wir spüren die Blicke hinter uns. Wir spüren sie neben uns und um die Ecke herum, in Fenstern und Spionen. Ich drehte mich um, und plötzlich stand ein Mann da, die Hände auf dem Rücken. Er musste Arzt sein, denn er trug einen weißen Kittel und hatte Sandalen an den Füßen. Zuerst winkte er und wollte wohl, dass ich zu ihm komme. Aber das wollte ich nicht. Ich knirschte mit den Zähnen und schnaubte, schnaubte und knirschte mit den Zähnen. Dann zog der Arzt sich die Sandalen aus und kam stattdessen zu mir.
    »Frierst du?«
    Er sprach Norwegisch. Alle hier sprachen andere Sprachen, abgesehen von Mutter und mir, aber bis jetzt hatte ich noch nichts gesagt, auch jetzt nicht.
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Hast du dich vielleicht erkältet?«
    Noch einmal schüttelte ich den Kopf.
    Der Arzt hockte sich hin und sagte etwas, das ich nie vergessen werde.
    »Bist du wütend?«
    Einen Moment lang hörte ich auf, mit den Zähnen zu knirschen, und ich schnaubte auch nicht mehr, mich überkam dieses Gefühl, durchschaut zu sein, auf frischer Tat ertappt, als hätte ich Vaters Waffenschrank geöffnet. Ich war entlarvt, denn ich wusste, dass ich wütend war, aber ich wusste nicht, worauf ich wütend war. Ich war wütend auf alles. Alles war wütend auf mich.
    »Nein«, antwortete ich.
    »Wie heißt du?«
    Ich konnte mich gerade noch an meinen Namen erinnern und fing wieder an, mit den Zähnen zu knirschen, Funken sprühten aus meinem Mund.
    »Bernhard. Hval. Bernhard. Bernhard. Hval.«
    Der Arzt legte mir die Hand auf die Schulter.
    »Warum beißt du die Zähne so fest aufeinander, Bernhard?«
    Ich schaute in das kalte Wasser, versuchte aufzuhören, aber ich konnte es nicht, es war, als würde ich explodieren und in die Luft gehen, wenn ich nicht mit den Zähnen knirschte und schnaubte, schnaubte und mit den Zähnen knirschte, ich musste es tun, sonst würde ich sterben, und Mutter würde sterben, Vater würde sterben, und Alfred und Beate und der Rest des Hauspersonals würden sterben, und das war meine Schuld. Es wurde nur noch schlimmer als vorher. Ich war kurz vorm Weinen. Ich schluckte und schluckte, und das kam dann auch noch über mich, ich musste einfach schlucken. Ich knirschte mit den Zähnen, schnaubte und schluckte, schnaubte, knirschte mit den Zähnen und schluckte. Ich war eine ganze Fabrik. Und dennoch ging es um etwas anderes. Es war nur ein Umweg, eine Ausflucht, eine falsche Erklärung. Ob ich das damals eingesehen habe, als ich mich in Wind und Wasser kauerte oder es mir erst später zurechtgelegt habe, das kann ich nicht sagen, aber es gefällt mir, daran zu glauben, dass diese Gedanken bereits damals Form annahmen, in diesem entscheidenden Moment, nämlich dass es keine Moral, kein Gott, keine Obrigkeit und kein Diktator ist, der unsere hektischen Bewegungen steuert, es ist der Zwang , der uns antreibt, dieser unwiderstehliche mechanische und sinnvolle Zwang, das sind wir, unsere Signatur und unser Profil, und er wird von den anderen als komisch, unnütz und sinnlos angesehen. Sie haben nichts verstanden. Wir

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