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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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erkennen, und hinter ihr wartete eine besorgte Schar von Kneipps weißen Jüngern.
    »Neunundneunzig«, sagte ich.
    Eine erleichterte, aber dennoch verwunderte Mutter:
    »Was sagst du da, mein lieber Bernhard?«
    Mein lieber Bernhard.
    Das hatte ich noch nie zuvor gehört.
    »Neunundneunzig«, wiederholte ich.
    Die Ärzte, vier an der Zahl, rückten näher heran. Hatten sie zu viel Johanniskraut gegeben?
    »Neunundneunzig was?«, fragte Mutter.
    Doch das wusste ich nicht.
    Ich wusste nur, ohne es zu wissen, dass Zahlen Grenzen setzen, und dennoch sind sie grenzenlos, wie riesige Rechenaufgaben im Wasser.
    »Fotzen«, sagte ich.
    Dann schloss ich schnell wieder die Augen.
    Am nächsten Tag fuhren wir heim, denselben Weg durch Europa, nur jetzt nach oben hinauf, in den Norden. Mutter glaubte, ich würde in dem blauen Coupé, das mit Samt ausgeschlagen war, immer noch schlafen. Aber ich tat nur so, als ob ich schliefe. Ich lag auf der unteren Koje und zählte die Nähte in den Schienen, das scharfe Klicken unter uns, das die Wagen jedes Mal erzittern ließ. Es war unmöglich, es nicht zu tun. Ich konnte zählen. Warum sollte ich dann nicht zählen? Was hätte ich sonst tun sollen? Ich hatte keine andere Wahl. Manchmal kam ich aus dem Takt und musste von vorn anfangen. Vielleicht habe ich trotz allem zwischendurch immer mal wieder geschlafen. In China wird es als Todesstrafe eingesetzt, den Verurteilten wach zu halten. Es dauert nur ein paar Tage, höchstens drei, bevor der Tod eintrifft. Mutter rauchte Zigaretten und trank aus einem großen Wasserglas. Sie war kuriert, aber jetzt auf eine andere Art und Weise nervös. Wenn der Zug auf einem Bahnhof anhielt und die flackernden, scharfen Lichter und die lauten Stimmen, die Schaffner, die riefen, die Fahrgäste, die einander übertönten, sich durch meine Augenlider schnitten, zog sie das Fenster nach unten und lehnte sich hinaus, und alles kam noch näher, schwer und aufdringlich, und drückte mich zu einem festen, harten Muskel in der Koje zusammen. Ich fragte mich, ob sie nach jemandem Ausschau hielt oder nur frische Luft brauchte. Aber die Luft war nicht frisch. Es stank nach Öl, Staub und dieser Kohle. Dann fuhr der Zug endlich weiter, aus irgendeiner Stadt, einem Dorf, und Mutter schob das Fenster wieder an Ort und Stelle und trank noch mehr, während sie sich eine weitere Zigarette anzündete und der Rauch sich an dem dichten Samt entlang die hohen Sitze hinauf bis an die Decke kringelte und einen Moment lang aussah wie der Dampf in den Becken und Bädern, nur dass er kräftig war und mir in den Kopf stieg. Plötzlich begann Mutter zu sprechen.
    »Du brauchst keine Angst zu haben, Bernhard. Schlaf nur. Das ist das Beste für dich.«
    Was hätte ich gesagt, wenn ich wach gewesen wäre?
    »Ich habe keine Angst, Mutter.«
    Und so verlief unser Gespräch. Ich hörte sie. Aber sie konnte mich nicht hören. Trotzdem fand ich es merkwürdig, dass sie in dieser Art zu mir sprach, obwohl sie doch dachte, ich würde schlafen.
    »Warum hast du das gesagt? Fotzen. Mein Gott. Neunundneunzig Fotzen. Was war mit dir los? Ich habe nicht einmal gewusst, dass du das Wort kennst.«
    »Du hast es oft gesagt. Zu Beate. Ich stand auf der Treppe. Du hast mich nicht gesehen.«
    »Du hast doch wohl noch nicht solche Träume? Oder?«
    Es blieb still, und dann spürte ich, wie Mutter die Hand unter die Decke schob und meinen Pyjama befühlte, am Schlitz.
    »Na, jedenfalls bist du nicht steif«, sagte sie.
    »Doch, Mutter. Ich bin steif. Niemand ist steifer als ich.«
    Mutter seufzte, zog die Hand wieder zurück, und ich hatte das Gefühl, als lehnte sie ihren Kopf an den Sitz und schaute zu dem blauen Nachtlicht an der Decke.
    »Du bist schon eine Klasse für sich«, sagte sie.
    »Aber ich will keine Klasse für mich sein«, rief ich.
    Mutter schenkte sich noch einmal ein, öffnete das Fenster ein wenig und warf den Rest ihrer Zigarette hinaus. Eine Zeitlang blieb sie mit dem Rücken zu mir stehen, betrachtete die Dunkelheit oder ihr eigenes Spiegelbild, das einen Moment lang hinter den Funken verschwand, die von den Schienen und Rädern hochsprangen, vielleicht war es auch die Zigarette. Ich weiß es nicht. Ich schlief ja.
    »Ich bin nicht gut für dich, Bernhard.«
    »Sag nicht so was, Mutter.«
    »Ich tue dir nicht gut. Nein, das tue ich nicht. Du verdienst mich nicht. Und ich verdiene dich nicht.«
    »Halt die Klappe, Mutter.«
    Der Zug fuhr in einen neuen Bahnhof ein. Die gleichen

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