Die Unseligen: Thriller (German Edition)
der Außenwelt klarkommen.«
»Was sollen die bewaffneten Wachposten?«, fragte Benjamin.
»Wir sind hier in Nigeria, Doktor.«
Er sprach dies mit einer grenzenlosen Traurigkeit aus.
»Kennen Sie das Phänomen der ›Kinderhexen‹?«
»Ja, ich habe Artikel darüber gelesen.«
»Das nigerianische Volk ist abergläubisch, ja sogar gefährlich, wenn es um Hexerei geht. Viele Menschen hier sind Analphabeten, und selbst wenn sie sich als Muslime oder Christen bezeichnen, sind sie vor allem Animisten. Das liegt in unserer Kultur.« Er legte eine Pause ein, um seine Worte sorgfältig zu wählen. »Sie machen sich keine Vorstellung, was passieren würde, wenn sich herumsprechen sollte, dass es eine Anstalt gibt, in der die Regierung psychisch gestörte Kinder verwahrt. Das Volk würde den Staat beschuldigen, es verhexen zu wollen, die Oppositionsparteien sowie die ethnischen Minderheiten würden die Gunst der Stunde nutzen, und das Land würde wieder in einen Bürgerkrieg zurückfallen.«
Benjamin hatte sich hinreichend mit den verschlungenen Pfaden der afrikanischen Geschichte befasst, um zu wissen, dass dieser Mann nicht übertrieb. Zahlreiche Staatsstreiche waren mit den absurdesten Vorwänden gerechtfertigt worden.
»Aus diesem Grund«, fuhr der Direktor fort, »verlasse ich mich auf Ihre Diskretion, meine Herren. Und ich sage Ihnen ganz offen: Bitte erledigen Sie Ihre Arbeit, und fahren Sie dann weit weg, ohne das geringste Aufsehen zu erregen. Verstehen wir uns in diesem Punkt?«
»Wir sind vor dem Morgengrauen fort«, versicherte Jacques.
»Gut.«
Das regelmäßige Dröhnen eines Hubschraubers hallte von fern durch die Nacht. Der Direktor verkrampfte sich, und eine flüchtige Angst vertiefte die Falten auf seiner Stirn. Benjamin fragte sich, wovor sich dieser Mann fürchtete. Mit einer schnellen Bewegung nahm der Direktor ein weiteres Mal den Hörer ab und drückte eine Taste, während er in die Finsternis hinter dem großen Fenster starrte.
»Wecken Sie die Kinder auf. Nur die unter fünf Jahren. Sie sollen sich ausziehen und im Gemeinschaftsraum versammeln.«
Mit den Augen verfolgte er die drei Lichtpunkte, die die Rasenflächen des Waisenhauses überflogen, und seine Hand krampfte sich um den Hörer zusammen.
»Ja, jetzt«, befahl er.
9
Benjamin saß auf einem Schemel und betrachtete die etwa fünfzig Kinder in weißen Unterhosen, die sich unter den Neonröhren des Gemeinschaftsraums drängten. Pflegerinnen kümmerten sich um sie und versuchten, sie zu beruhigen.
Total verängstigt, weil man sie mitten in der Nacht aus dem Bett geholt hatte, rückten die Waisenkinder eng zusammen und sahen sich angespannt um, wie junge Hunde in einer Tierhandlung. Einige vergruben die Gesichter in ihren wollenen Kuscheltieren, andere verrieten eine erschreckende Unerschütterlichkeit, als ob sie schon keine Angst mehr empfinden könnten. Ihre glasigen Augen starrten imaginäre Punkte im Raum an, und ihre harten Gesichter schienen jegliche Unschuld verloren zu haben.
Für Benjamin war das Gesicht eines kleinen Kindes immer eine Art formbare und zerbrechliche Knetmasse gewesen, in der jedes Gefühl seine Spuren hinterließ und so nach und nach die Konturen dessen herausarbeitete, was dieses Kind einmal werden sollte. Er war fest davon überzeugt, dass die von einem Lächeln gegrabenen Grübchen weder durch die Enttäuschungen noch durch die Missetaten des Erwachsenenalters ausgelöscht werden konnten. Als er diese Kinder sah und den leeren Blick, den sie auf die Welt richteten, wollte er nicht darüber nachdenken, was sie durchgemacht hatten.
»Du blutest … «
Benjamin blickte zu seinem Kollegen auf, der gerade den Arm eines kleinen Mädchens vermaß. Er setzte sein Stethoskop ab.
»Bitte?«
»Deine Nase«, sagte Jacques.
Benjamin berührte den Rand seiner Nasenlöcher, und Blut benetzte seinen Zeigefinger.
»Mist.«
Er zog den Rollwagen zu sich und nahm ein Taschentuch aus einer Schachtel. Das Koks, das er schnupfte, war von schlechter Qualität. Aber ohne dieses Stimulans wäre er schon längst zusammengebrochen – körperlich und psychisch.
Als er sah, wie zärtlich Jacques mit einem Säugling umging, fragte er sich, wie es diesem gelang durchzuhalten, ohne etwas einzuschmeißen. Soweit er wusste, zogen sich die meisten Ärzte bei längeren Auslandseinsätzen, genauso wie Soldaten, Amphetaminderivate rein, damit sie morgens überhaupt aus den Federn kamen. Eine Minderheit hielt sich mit Antidepressiva
Weitere Kostenlose Bücher