Die Unseligen: Thriller (German Edition)
wurde, ließ ein seltsames Gefühl der Verlassenheit und Trostlosigkeit den Arzt erschauern. Die harten Schatten der Gebäude, das Zittern der Zäune, das hohe Unkraut, das bis zu den Fenstern im Erdgeschoss reichte – dies alles machte auf ihn den Eindruck verwaister Kulissen.
»Ich komme gleich«, rief er Jacques zu.
Er tat so, als suche er etwas, und wartete, bis sich der Einsatzleiter und der Fahrer entfernt hatten, um sich hinter einen Kotflügel des Geländewagens zu kauern. Er sah nach, ob ihn die Wachen auch nicht beobachteten, und zog dann eine kleine Phiole aus seiner Hosentasche. Er entkorkte sie und klemmte das kleine Löffelchen, das darin steckte, zwischen seine Finger. Er schnüffelte das Kokain zuerst durch das linke Nasenloch, dann durch das rechte, und schloss die Augen.
8
Das Zimmer, in das sie der Direktor des Waisenhauses gebeten hatte, lag im Erdgeschoss und ging auf einen Garten; von hier hatte man einen Rundblick auf einen Dschungel aus Eukalyptusbäumen. An einer Wand des schlicht eingerichteten Büros reichten die Aktenordner bis an die Decke, einen davon hatte der Direktor für Jacques aufgeschlagen.
»Wie Sie sehen können, haben unsere Zöglinge alle erforderlichen Impfungen. Sie können ihre Gesundheitspässe und die Arztberichte überprüfen.«
Benjamin hatte beim Betreten des Zimmers eine leichte Enttäuschung verspürt. Er hatte erwartet, die Höhle eines korrupten Beamten zu entdecken, der das Geld des Steuerzahlers, welches den reibungslosen Betrieb der Einrichtung sicherstellen sollte, für Schnickschnack ausgab. Er musste zugeben, dass dieses Büro nichts Protziges hatte, und sein erster Eindruck von dem Direktor des Waisenhauses hatte vielleicht getrogen. Er warf einen Blick auf den Spitzbauch des Beamten und konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, ihm eine umfassende Hormonanalyse zu empfehlen.
»Was die Unterernährung anbelangt«, sagte Jacques, während er sich auf den Stuhl setzte, der ihm am nächsten stand, »würden wir die Kinder gern in Augenschein nehmen.«
Auf diese Worte hin bemerkte Benjamin ein eigenartiges Funkeln in den Augen seines Gesprächspartners, und wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, dass das Koks seine Wahrnehmung veränderte, dann hätte er geschworen, darin Angst zu erkennen.
»Sie bekommen zweimal am Tag zu essen«, antwortete der Direktor ruhig, als sagte er eine auswendig gelernte Floskel auf.
Jacques hob beide Hände und lächelte.
»Ich ziehe Ihr Wort nicht in Zweifel, aber wir würden uns gern selbst davon überzeugen.«
»Und wie wollen Sie vorgehen?«
»Wir messen den Armumfang aller Kinder unter fünf Jahren. Wenn er über einhundertzwanzig Millimeter beträgt, besteht keine Gefahr, zumindest nicht, was eine mögliche Fehlernährung angeht. Anschließend kontrollieren wir das Verhältnis Gewicht/Körpergröße.«
»Wenn ich Sie recht verstehe, wollen Sie also jeden unserer Zöglinge nur wiegen und messen?«
Die beiden Ärzte nickten.
»Sonst nichts?«
»Sonst nichts.«
Benjamin glaubte, Erleichterung im Gesicht des Direktors zu erkennen, ohne sich dies erklären zu können. Der Direktor stand auf und griff zum Telefonhörer.
»Okay. Ich werde sie wecken.«
»Warten Sie, es ist zwei Uhr nachts. Sie werden die Kinder doch nicht wach machen, weil … «
Der Mann legte auf und musterte sie einige Sekunden schweigend.
»Falls es Ihnen entgangen sein sollte«, sagte er, als er sich wieder hinsetzte, »dieses Heim ist – sagen wir – anders als die anderen Waisenhäuser des Landes.«
»Anders in welcher Hinsicht?«
»Hier sind Kinder mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen untergebracht. Behinderte, die eine sorgfältige medizinische Betreuung brauchen.«
»Das haben wir nicht gewusst.«
Der Beamte stützte sich auf seine Ellbogen und faltete die Hände vor dem Gesicht.
»Die nigerianische Regierung weiß, dass die Lebensbedingungen in den Waisenhäusern oftmals schlimmer sind als auf der Straße. Kriminalität, Krankheiten, unzureichende Ernährung – Sie kennen das genauso gut wie ich.« Er hielt sich die Nase zu, und sein Blick verschleierte sich. »Ich habe zwanzig Jahre lang eines der größten Waisenhäuser von Lagos geleitet, und trotz der Anstrengungen meines Teams ist es uns nicht gelungen, die Dinge in Ordnung zu bringen. Es sind immer die Stärksten und Schlauesten, die durchkommen. Hier wollten wir einen neuen Ansatz ausprobieren und die Kinder beschützen, die nicht mit den Anforderungen
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