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Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Titel: Die Unseligen: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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Sehnen und die Muskeln bildeten sich nach und nach zu Knochenplatten um, schubweise, so, als würde ein zweites Skelett das erste überlagern.
    »Myositis ossificans progressiva?«, fragte Benjamin seinen Kollegen.
    »Die Steinmenschenkrankheit? Unwahrscheinlich, man hat in der ganzen Welt nur dreitausend Fälle gezählt.«
    »Genauso wahrscheinlich, wie zwei seltene Krankheiten in einem Zimmer zu haben, oder?«
    Eine böse Ahnung ging ihm durch den Kopf, doch statt sich sofort aufzulösen, setzte sie sich fest und ließ sich nicht vom Strom seiner Gedanken forttragen.
    Er blickte durch das Fenster Richtung Tor und Wachhäuschen. Die in seinem Kopf festgeschraubte Ahnung stellte eine abenteuerliche Verbindung zwischen den Mitteilungen des Kindes und den bewaffneten Wachposten am Eingang des Waisenhauses her. Und auch wenn sein Verstand diesem Verdacht sogleich widersprach – der Direktor hatte nicht verhehlt, dass seine Zöglinge behindert waren – , musste er zugeben, dass er etwas ahnte.
    »Siehst du hier oft Ärzte?«, fragte er.
    Pille runzelte argwöhnisch die Stirn.
    »Warum willst du das wissen?«
    »Ich bin neugierig«, antwortete Benjamin mit einem vertrauensvollen Lächeln.
    »Ich weiß nicht genau. Was heißt ›oft‹ für dich? Wenn das wenigstens einmal im Monat ist, dann, ja, kommen sie oft. Aber da ist ein Mädchen, sie hat drei Ärzte, die sie jeden Tag besuchen.«
    »Ach ja? Und weißt du, warum?«
    »Nein, wir sehen sie fast nie. Sie ist immer in ihrem Zimmer.«
    »Und wo ist ihr Zimmer?«
    »Da unten. Am Ende von dem Gang.«
    Benjamin blieb stumm, den Blick auf die Flügeltür am anderen Ende des Gemeinschaftsraums gerichtet. Jacques warf den Pflegerinnen, die vor Langweile zu sterben schienen, einen Blick zu und näherte sich ihm.
    »Was willst du tun?«
    »Versuchen, mehr herauszufinden.«
    »Und was bringt dir das?«, flüsterte Jacques, der ihn am Arm nahm, um ihn auf die Seite zu ziehen. »Wir haben noch Kinder, die wir abhören müssen. Und der Direktor wird uns so lange nicht aus den Augen lassen, bis wir hier verduftet sind.«
    »Hier ist irgendwas faul, und das weißt du.«
    »Ich, ich weiß gar nichts«, versetzte Jacques gereizt. »Sag du es mir doch! Sag mir, woran du denkst?«
    Benjamin sah sich um, ob sie auch niemand hören konnte, und flüsterte dann: »Ich denke an den Trovafloxacin-Skandal.«
    Die Miene des Einsatzleiters verfinsterte sich.
    »Du spinnst … Wir sind hier nicht in einem Thriller von John le Carré!«
    »Es gibt nur einen Weg, um das herauszufinden.« Er wandte sich von seinem Kollegen ab und ging vor dem kleinen Jungen in die Hocke. »Würdest du mir zeigen, wo dieses Zimmer ist?«

11
    Wenn ihn sein Gedächtnis nicht täuschte, hatte die Washington Post im Jahr 2000 einen Artikel über illegale klinische Versuche in Entwicklungsländern veröffentlicht. Aufgrund dieses Artikels hatte sich eine nigerianische Untersuchungskommission mit den Machenschaften des Pharmakonzerns Pfizer in Nigeria befasst. Im Jahr 2001 hatte die Kommission einen hundertseitigen Bericht verfasst, der enthüllte, dass Pfizer 1996 in der Region Kano im Norden des Landes illegal ein neues Antibiotikum der vierten Generation getestet hatte.
    Das Unternehmen hatte ohne Genehmigung etwa hundert Kindern und Säuglingen, die an Meningitis beziehungsweise Röteln erkrankt waren, Trovafloxacin verabreicht; weitere hundert Kinder hatten als Versuchskaninchen für ein Antibiotikum des Konzerns Hoffmann-La Roche gedient. Nach Abschluss des klinischen Versuchs waren elf Kinder tot gewesen, und etwa dreißig hatten an Hirnschädigungen, irreversiblen Lähmungen und Taubheit gelitten.
    »Das da ist ihr Zimmer.«
    Der Junge zeigte auf eine weiße Tür, deren Farbe durch die Feuchtigkeit leicht abgeblättert war. Es roch hier stärker nach Desinfektionsmitteln und Exkrementen, und ein süßlicher Duft wie von Hustensaft schien aus der Spalte unter der Tür zu dringen.
    »Du musst zurückgehen, kleiner Mann. Die Krankenschwestern fragen sich bestimmt, wo du steckst.«
    Pille verzog das Gesicht.
    »Ich seh dich doch wieder, sag?«
    »Wahrscheinlich«, antwortete Benjamin.
    Der Junge reichte ihm linkisch die Hand, und er drückte dessen kleine Finger zwischen den seinen.
    Er wartete, bis er allein war, ehe er die Tür einen Spaltbreit öffnete und das Licht des Flurs in das Zimmer drang. Der ockerfarbene Lichtstreifen enthüllte einen engen Raum mit nackten Wänden und ein kleines Mädchen, jünger als

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