Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Pille, das auf seinem Bett saß. Es überraschte den Arzt, dass sie hellwach zu sein schien. Ihre schwarzen Augen fixierten ihn mit einer Intensität, die bei einem Kind dieses Alters sehr ungewöhnlich war.
»Hab keine Angst … Ich bin Arzt.«
Er hatte diese Worte ganz unwillkürlich geäußert, gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass das Gesicht des Mädchens keinerlei Angst ausdrückte. Genau genommen, zeigte dieses Gesicht überhaupt kein Gefühl.
Als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah er den Infusionsschlauch am Arm des Mädchens und den Dialyseapparat in einer Ecke des Zimmers. Das, was er zunächst für Mauersalpeter gehalten hatte, waren an die Wand gepinnte Zeichnungen oder, genauer gesagt, Blätter, die mit einem Gewirr von Strichen und mit schwarzen und roten Flecken bemalt waren.
Dieses Gekritzel hatte etwas Pathologisches, wie wenn sich die Gefühle, die hinter der starren Miene des Mädchens eingesperrt waren, in einem jähen hysterischen Durchbruch wild durcheinander auf das Papier ergossen hätten. Benjamin dachte an die Werke von Geisteskranken in psychiatrischen Kliniken. In den Zeichnungen des kleinen Mädchens glaubte er Gewalt, Wut, Verzweiflung und Wahnsinn zu erkennen.
Als er sich dem Bett näherte, bemerkte er, dass sie ihm mit den Augen folgte.
»Wie heißt du?«, fragte er, während er sich aufs Bett setzte.
Sie antwortete nicht, sondern starrte ihn nur stumm an, als er das Klemmbrett, das auf dem Nachtschränkchen lag, an sich nahm.
»Naïs … «, las er mit lauter Stimme. »Das ist ein hübscher Name für ein hübsches kleines Mädchen.«
Er ging die letzten verschriebenen Medikamente durch und wunderte sich, dass darunter Amoxicillin und ein Protonenpumpenhemmer waren. Dieses Kind war doch wohl etwas zu jung, um an einem Magengeschwür zu leiden. Aber abgesehen von diesem einen Punkt fiel ihm bei der medizinischen Behandlung nichts Ungewöhnliches auf, weder ein unbekanntes Medikament noch ein experimentelles Therapieverfahren. Er überprüfte die Daten, überflog die Zahlen auf der Suche nach irgendetwas Ungewöhnlichem und fand nichts Wichtiges. Das Mädchen litt an einer leichten Anämie und hatte eine leicht erhöhte Temperatur, die jedoch nicht beunruhigend war. Er warf einen Blick auf das Dialysegerät – unnötig angesichts der Befunde – und vermutete, dass man es schlichtweg aus Platzmangel dort abgestellt hatte.
»Naïs? Verstehst du, was ich sage?«
Sie kniff die Augen zusammen, was er als Zeichen deutete, dass sie ihn verstand. Er wollte näher an sie heranrücken. Doch kaum hatte er dazu angesetzt, schrie Naïs aus vollem Hals.
12
Benjamin war wie erstarrt – der gellende Schrei des Mädchens ging ihm durch Mark und Bein. Entgeistert stand er auf und wich zurück, die Hände wie zur Abwehr ausgestreckt.
»Was machen Sie hier?!«, keifte eine Pflegerin. »Verlassen Sie sofort dieses Zimmer!«
Naïs brach in Tränen aus. Mit den Fingernägeln zerkratzte sie sich den Bauch.
»Nein … pst, beruhige dich, Naïs … «, sagte die junge Schwarze.
Sie packte die Handgelenke des Mädchens und hielt sie fest, wobei sie Worte in Haussa flüsterte. Tränen liefen Naïs über Wangen und Hals.
»Warum ist dieses Mädchen nicht bei den anderen?«
»Was?!«
Die Krankenschwester sah ihn verständnislos an.
»Der Direktor hat Sie angewiesen, alle Kinder unter fünf Jahren zu versammeln!«
Sie drängte Benjamin aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Naïs hörte sofort auf zu weinen.
»Sie hatten nicht das Recht, hierherzukommen!«
»Warum ist sie nicht bei den anderen?«, bohrte der Arzt nach. »Wir müssen alle abhorchen!«
»Ich … «
Sie wurde jäh unterbrochen. Eine Reihe dumpfer Geräusche ertönte außerhalb des Gebäudes, gefolgt von heiserem Gewimmer.
Benjamin hatte von seiner Zeit in der Armee nur einige ausgewählte Erinnerungen behalten – den Rest wollte er lieber vergessen. Und dieses Krachen, das gerade draußen widerhallte, gehörte genau zu dem, was er aus seinem Gedächtnis verbannen wollte.
»Was war das?«, flüsterte die Krankenschwester.
Instinktiv trat sie näher an ihn heran. Man spürte die Panik in ihrer Stimme. Zu Recht, dachte Benjamin.
»Schüsse aus automatischen Gewehren.«
13
»Gibt es einen anderen Ausgang?«
Benjamin Dufrais zog die Krankenschwester mit sich in den Gang. Er hatte sofort auf die Schüsse reagiert und eine Kaltblütigkeit und einige Reflexe wiedergefunden, die er mit seiner
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