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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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wirklich die ganze Zeit über bewegt haben. Damals, als ich mit Klaus meine Jungfernfahrt machte, ist mir diese Vibration so sehr ins ohnehin schon kochende Blut gefahren, dass ich noch Stunden nach dem Anlegen an Land meinte, in der Erde unter meinen Füßen so ein eigenartiges Zittern zu verspüren. Klaus, dem ich davon erzählte, wusste natürlich sofort eine Erklärung.
    »Was du da spürst«, sagte er, »ist das Meer, das ewig arbeitende, das an den Fundamenten der Insel nagt und kaut und frisst, bis es sie irgendwann ganz unterhöhlt haben, alles zum Einsturz bringen und mit Mann und Maus in ihren Fluten verschlingen wird.«
    »Ach, du spinnst doch.«
    »Die Einheimischen merken davon natürlich nichts mehr, ihnen ist das Zittern zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen. Bei den Friesen ist es sogar eher so, dass ihnen ganz anders wird, wenn sie dieses Erzittern der Erde unter sich nicht mehr spüren, wenn sie etwa das Festland betreten. Ihnen wird dann ganz schwindlig, manche müssen sich sogar übergeben. Das nennen sie hier die Landkrankheit.«
    »Echt jetzt?«
    »Ja. Es heißt sogar, dass friesische Babys zitternd wie Wackelpudding auf die Welt kommen und manche sogar erst Tage nach ihrer Geburt damit aufhören.«
    »Blödmann!«
    Klaus lachte sich schlapp, allerdings eher mit mir über seinen gelungenen Scherz als auf meine Kosten. Er liebte es überhaupt, Seemannsgarn zu spinnen, konnte aus dem Stegreif die wildesten Geschichten ersinnen und dabei jederzeit einen Eindruck absoluter Leutseligkeit erwecken. Seine kunstvollen kleinen Erzählungen, denen allesamt der Schalk im Nacken saß, waren schon legendär, er hatte richtige Anhänger, die sich auf Partys stets in seiner Nähe hielten, weil sie hofften, er möge bald in Stimmung kommen und wieder eine Geschichte vom Stapel lassen, als wäre sie von den Schildbürgern in Zusammenarbeit mit den Pickwickiern erdacht worden, auf keinen Fall aber von einem der reichsten Industriebosse Hamburgs, ein echter hanseatischer Tycoon, der sich auch nicht scheut, Arbeiter zu entlassen, sollte sein Unternehmen in eine Krise geraten. Sobald es so weit war, hingen ihm diese Leute an den Lippen und vergaßen alles um sich herum, große Kinder allesamt, die schließlich Tränen lachten und Beifall klatschten und gar nicht glauben mochten, dass diese so überbordend sprudelnde Fantasie ganz ohne Alkohol als zumindest einer ihrer Inspirationsquellen ausgekommen sein sollte.
    In genau einer solchen Situation hatte ich Klaus kennengelernt. Auf einer gediegenen Party, die die oberen Zehntausend der Hansestadt sich selbst zu Ehren gaben. Mein Galerist hatte mich mitgenommen in diese Welt, die noch immer aufregendes Neuland für mich war, und weil er mich überall als den aufstrebenden neuen Stern am Kunsthimmel anpries, fiel es mir auch niemals schwer, schnell zum Mittelpunkt des Geschehens zu werden. Für ihn waren die anderen Gäste Freunde und Kunden zugleich, der Inhaber dieser prächtigen vielzimmerigen Wohnung wohl beides in bester und engster Weise, wenn man sich die Gemälde und Skulpturen betrachtete, die sich in jeder Ecke stapelten und alle Wände wie eine bunte Tapete von ganz oben bis ganz unten bedeckten. Ich war meinem Galeristen äußerst dankbar für diese Starthilfe ins gesellschaftliche Leben, denn obwohl ich die Umtriebigkeit in Person war, war es mir bisher doch kaum gelungen, echte längerfristige Kontakte zu anderen Menschen hier zu knüpfen. Mein Galerist wusste das, aber er wusste auch die Situation, die mich erwartete, sehr genau einzuschätzen, und wenigstens dieses eine Mal war ich dankbar dafür, dass sein Wesen hauptsächlich von diesem kalten, mithin zum Zynismus tendierenden Geschäftssinn geprägt wurde.
    »Wenn du hier gleich deine Show abziehst und ordentlich Beifall ernten wirst …«, fing er an.
    »Welche Show denn bitte? Was soll das heißen?«, erwiderte ich sofort pikiert.
    »Du weißt, was ich meine: Nach spätestens fünf Minuten wirst du halb nackt und angesoffen durch die Räume rennen und deinen Senf zu jedem Kunstwerk abgeben, das nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht ist. Du wirst alles in Bausch und Bogen verdammen und dabei so lustig sein, dass die Leute dir jeden auch noch so üblen Scherz verzeihen werden.«
    Ich grinste, seine Brauen hoben sich in strenger Herablassung. Mit einer so sachlichen Kälte, zu der nur er imstande ist, fuhr er fort:
    »Aber bedenke dabei eines: Sie tun das nicht, weil sie dich wirklich so süß

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