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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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man an seiner eigenen Urteilsfähigkeit zu zweifeln begann und ihm einfach den Blödsinn, den er verzapfte, glauben wollte. Ich hörte noch das Resümee seiner Geschichte, das lautete wie folgt:
    »… deshalb also haben die Spanier damals in Peru nur das Christentum eingeführt, um die alten Inkas davon abzubringen, die Köpfe der Eroberer gebraten am Spieß zu essen. Und als Ersatz haben die Inkas dann irgendwann angefangen, ihre Meerschweinchen am Spieß zu grillen und zu essen. Das hat zwar viele kleine Mädchen dort zum Heulen gebracht, aber heute ist es Perus Nationalgericht.« Und wie zum Beweis biss er einmal kräftig von einem Saté-Spieß ab, den er die ganze Zeit über in seiner Hand gehalten hatte, ohne dass ihm Erdnusssoße auf die Finger oder sonst wohin getropft wäre.
    Um ihn herum wurde herzhaft gelacht, teilweise auch geklatscht, sofern das mit Gläsern und Tellern in den Händen überhaupt möglich war. Er wurde gelobt und gepriesen, und ein Mann, augenscheinlich ein Idiot, fühlte sich berufen zu sagen, er, Klaus, könnte sogar den Eskimos Kühlschränke verkaufen. Dass die anderen nur aus Höflichkeit lächelten, bekam der Typ gar nicht mit.
    »Mag sein«, antwortete Klaus ganz gelassen, »nur vergisst du dabei, Horst, dass die Eskimos heute wirklich schon Kühlschränke brauchen.«
    »Genau! Weil deiner ständig offensteht«, pflichtete ihm eine Frau bei und tätschelte mit der Hand Horsts Wampe.
    Klaus lächelte gnädig und – plötzlich sah er mich und sah er mich an.
    Natürlich war da zuerst das Meergrün seiner Augen, diese Tiefe, in der ich sofort bis auf den Grund versinken wollte. Aber darunter offenbarten sich eine Selbstsicherheit und Souveränität, die mich gleich noch um ein Vielfaches stärker anzogen. Dieser Mann stand mit beiden Beinen fest im Leben, war durch nichts zu erschüttern, liebte, wen und was er lieben wollte, und wäre nicht einmal im Traum auf die Idee gekommen, sich dafür zu rechtfertigen, zu entschuldigen oder gar zu schämen. Er war ein selbstbewusster schwuler Mann, ein erwachsener Mann. Nicht so gemein unreif wie Karsten, nicht so gemein kaufmännisch wie mein Galerist. Dieser Mann, das spürte ich vom ersten Augenblick an, war stark genug, zu seinem Herzen zu stehen. Und dennoch war da auch noch etwas anderes, etwas Drittes, das sowohl das Meergrün seiner Augen als auch sein selbstsicheres Auftreten wie eine gefühlsblaue Strömung durchzog und beidem, seinem Blick wie seiner gesamten Körperhaltung, etwas Melancholisches, Trauriges verlieh, eine noch gar nicht so alte Verletzung, wie ich natürlich sofort und ohne jeden Zweifel vermutete – und von der ich, ebenfalls sofort, alles wissen wollte.
    Klaus sah mich noch immer an, ich spürte es, als würde er mir ein Lasso um den Hals werfen und mich unaufhaltsam zu sich heranziehen. Und ich wollte es, wollte es. Dabei bewegten sich seine Hände, wie ich jetzt sah, gar nicht. Sie spielten nur mit dem Stiel seines leeren Weinglases, wobei hin und wieder Lichtreflexe von den beiden Ringen an seinen Ringfingern aufblitzten, als wollten sie mich blenden und mich auf Schreckhaftigkeit oder Furchtlosigkeit hin testen. Links trug er einen dicken Siegelring – das Einzige an ihm, was geschmacklos und protzig wirkte, wofür jedoch der Familie die Schuld anzulasten ist –, rechts ein schmales, abgegriffenes Band aus Gold. Anfangs hielt ich es für einen Ehering, den Nachlass einer früheren Beziehung, was er in gewisser Weise tatsächlich war, wenn auch nicht der einer von ihm selbst geführten Ehe. Ich träumte, wie es wohl wäre, von ihm einen solchen Ring an den Finger gesteckt zu bekommen, von ihm überhaupt erst einmal einen Antrag gemacht zu bekommen. Ich würde keine Sekunde zögern, ich würde sofort »Ja« …
    »Hallo, ich bin Klaus Brandstätter«, sagte er da plötzlich und streckte mir seine Rechte entgegen, seine Stimme aber klang, als befände sich sein Mund bereits unmittelbar neben meinem Ohr.
    Ich schreckte zurück, erwachte aus meinem Tagtraum und stellte fest, dass ich genau vor ihm stand und alle anderen zurückgetreten waren, wahrscheinlich hatten zurücktreten müssen, weil ich sonst in meiner geistigen Umnachtung einfach über sie drübergelaufen wäre.
    »Und Sie sind?«, fragte Klaus Brandstätter, jetzt mit einem breiten, spitzbübischen Grinsen im Gesicht, das keinen Platz für irgendeine Art von unterschwelliger Trauer ließ und dass ich ihm am liebsten sofort von den Lippen geküsst

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