Die unsicherste aller Tageszeiten
Türen und Treppen benutzt zu haben.
In meiner Wohnung aber überkam mich pure Verzweiflung: Wieso hatte ich ihm denn nicht auch gleich meine Nummer gegeben? Warum hatte ich ihm nicht gesagt, dass ich mich ebenfalls über einen Anruf freuen würde? Was musste er denn jetzt von mir denken, dass ich nur aus Spaß mit ihm geflirtet hatte, dass das alles nicht mehr als bloß ein netter Abend gewesen war? Dabei spürte ich richtige Schmetterlinge in meinem Bauch herumflattern, zum ersten Mal seit Karsten. Und es waren nicht einfach nur deren schattenhafte Wiedergänger, nein, bei ihnen handelte es sich um eine neue Sorte, um eine neue Art, ganz frisch erst aus ihrem Kokon geschlüpft. Klein noch wie Larven waren sie, aber schon mit Flügeln ausgestattet, mit denen sie nun blind und noch ganz ungelenk in meinem Magen ihre kleinen Kreise zogen, immer wieder gegen die Magenwände stießen und zurückprallten und mich kitzelten, bis wir, sie und ich, uns wünschten, sie würden irgendeinen Weg nach draußen finden, und sei es, dass sie sich dazu einmal quer durch meine Eingeweide fressen müssten, um endlich frei zu sein, echte Luft zu atmen und sich zu ihrer vollen Pracht und Schönheit entfalten zu können. Allein sie blieben in mir eingesperrt, und ich hockte auf meinem Bett, niedergeschlagen und den Tränen nahe, weil ich befürchtete, es gleich bei der ersten Gelegenheit vergeigt zu haben.
Zwei Tage verbrachte ich wie paralysiert zu Hause in dem reinsten Gefühlsdusel aus der Euphorie des frisch Verknallten und der Depression des hoffnungslos Verliebten, umschlich den Telefonapparat wie eine Katze das Goldfischglas, bald mir sagend, ihn heute nach Feierabend endlich anzurufen, bald fantasierend, er würde doch mich anrufen, nachdem er sich die Nummer, klug wie er war, von meinem mürrischen Galeristen besorgt hätte oder so. Doch nichts davon geschah natürlich, weder rief ich ihn noch rief er mich an, obwohl ich den Apparat schließlich sogar mit aufs Klo und ins Bad nahm, um seinen Anruf, wenn er denn käme, ja nicht zu verpassen. Dann riss mir schließlich der Geduldsfaden und, als würde ich in einen Abgrund stürzen, ging ich in die Sauna, um glücklicherweise in den Armen der blonden Schrankwand von der Party vorgestern zu landen, die mich nur zu gerne auffingen, um mich gleich nach Verrichtung ihrer Trostarbeit an mir wieder in die Freiheit zu entlassen. Am dritten Tag wurde es richtig unerträglich, zu dem übermenschlichen Wunsch, ihn endlich anzurufen, gesellte sich die Befürchtung, es wäre für den Anruf bald zu spät, wenn ich ihn nicht endlich tätigte, und dann hätte ich es wirklich vergeigt. Wie ein nahezu abgelaufenes Ultimatum, wie eine tickende Zeitbombe mit nur noch wenigen verbliebenen Minuten bis zum letalen Weckerklingeln. Und natürlich war da jetzt auch noch das leise, mit aller Macht zu unterdrückende Schuldgefühl, Klaus letzte Nacht bereits so etwas wie betrogen zu haben.
Plötzlich klingelte das Telefon tatsächlich. Erschrocken schrie ich auf, dann griff ich nach dem Hörer, der mir beinahe aus den schweißnassen Händen gerutscht wäre, und hauchte ein »Ja« in die Sprechmuschel. Am anderen Ende der Leitung war jedoch nur meine Mutter, die sich mal wieder nach meinem Befinden erkundigen wollte.
»Jetzt nicht«, bellte ich sie an und hämmerte den Hörer zurück auf die Gabel, dass es nur so knallte in dem alten Plastikgehäuse – ich benutzte noch immer ein altes ausrangiertes Gerät meiner Eltern, zwar schon mit Tasten anstatt Wählscheibe, dafür aber mit Schnur und von einer hässlichen stumpfgrünen Farbe. Als wäre sie trotzdem in der Luft um mich herum noch anwesend, schimpfte ich sie aus, wie sie es denn nur wagen könne, mich ausgerechnet jetzt mit ihren Belanglosigkeiten zu belästigen, wo ich doch einen Anruf erwarte, von jemandem, der meine Nummer gar nicht wusste, und so weiter und so fort. Meine Nerven lagen blank, ich wollte nicht versagen, meinte aber immer mehr, gar nicht anders als nur versagen zu können in dieser Sache.
Als Nächstes klingelte es an der Tür, aber nicht von unten, von der Haustür, sondern direkt oben an der Wohnungstür. Ich zuckte erschrocken zusammen, dann ärgerte ich mich über meine Überreaktion. Wohl der Postbote, dachte ich – und dann: Vielleicht der Postbote mit einer Nachricht von ihm! Ich stürmte an die Tür, rief, brüllte noch von unterwegs ein gellend lautes »Ich komme!«, dass man vermutlich einmal quer über den ganzen
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