Die unsicherste aller Tageszeiten
Seeluft tat ihr gut. Sie fuhren wohl auch einmal in die Berge, allein, die übten weder auf die Mutter noch auf den Sohn den geringsten Zauber aus. Ebenso wie die Karibik oder das viel wärmere, wetterbeständigere Mittelmeer mit seinen berühmten Badeorten wie Cannes, Saint Tropez, Ibiza, Capri, Mykonos und Co., die sie sich problemlos hätten leisten können. Sie waren eben bodenständige Hanseaten aus Hamburg, und die protzen ja nicht mit ihrem Reichtum, also meistens jedenfalls nicht. Es fuhren auch nur Klaus und seine Mutter in den Ferien an die See, der Vater, wohl von Grund auf ein schwieriger Charakter, betriebswirtschaftlich hochbegabt, gefühlswirtschaftlich entweder ein Autist oder einfach längst gestorben, blieb in der Stadt. Und das war auch gut so, nur so konnten diese vier bis fünf Wochen in jedem Kindheitssommer zu einer echten Erholung für die beiden werden. Klaus litt jahrelang unter den strengen Erziehungsmethoden seines Vaters, die noch von dessen Ärger und Gram darüber verstärkt wurden, dass die Mutter wegen ihrer körperlichen Schwäche keine weiteren Kinder mehr hatte bekommen dürfen. Eine zweite Schwangerschaft hatte es zwar trotzdem noch gegeben, endete jedoch in einer lebensbedrohlichen Fehlgeburt. Also blieb Klaus der einzige Erbe, Klaus, dieser weiche und sensible Junge mit seinen künstlerischen Ambitionen – Flausen, wie der alte Brandstätter sie nannte –, in dem der Vater so überhaupt nicht seinen einstigen Nachfolger im Familienunternehmen zu sehen vermochte. Dennoch machte er sich mit der ihm eigenen Unerbittlichkeit daran, Klaus für die Laufbahn eines Kauf- und Geschäftsmannes vorzubereiten – und Klaus unterwarf sich seinem Willen. Scheinbar kampflos, denn alle Kämpfe focht er in den stillen Kämmerlein seines eigenen Oberstübchens und Herzens aus, keinesfalls aber mit seinem eisernen Erzeuger. »Er gab nichts auf meine Meinung«, erklärte Klaus mir das Warum, »denn er handelte ja nicht für sich oder für mich, sondern nur als Handlanger eines größeren Plans, so sah er es, eines Plans, der in der Besitzstandswahrung des Familienunternehmens bestand. Dem und nicht ihm als meinem Vater hatte ich mich ebenso zu unterwerfen wie er sich Jahre zuvor.« – »Hätte er dir ansonsten mit Enterbung gedroht?«, fragte ich. – »Nein, das konnte er ja auch gar nicht, ich war doch sein einziger Erbe und Stammhalter. Ich musste die Firma einfach übernehmen, wir hatten alle keine andere Wahl.« Also studierte Klaus nicht Malerei und gab dieses ihm liebste Hobby sogar bald ganz auf, stattdessen belegte er an der Universität Hamburg Wirtschaftswissenschaften und Betriebswirtschaft. Überhaupt tat er nur noch so, als könnte er kein Wässerchen mehr trüben. Trotzdem gärte es die ganze Zeit in ihm, und selbst ein Charakter wie Klaus, der die personifizierte Ausgeglichenheit und Menschenfreundlichkeit ist, sucht und findet irgendwann Mittel und Moment, sich zu rächen. Für Vater und Sohn Brandstätter kam dieser kurz nach der offiziellen Stabübergabe, als Klaus schließlich alle wirtschaftliche und damit familiäre Macht in Händen hielt. Er teilte seinem Vater endlich mit, schwul zu sein und niemals einen Erben zu zeugen. Außerdem würde er das Familienunternehmen in eine Aktiengesellschaft umbauen und den Großteil des Vermögens in eine Stiftung überführen, Aufsichtsräte einsetzen und Vorstände berufen und überhaupt alles tun, um nach und nach den Einfluss der Familie zurückzufahren. »Wahrscheinlich der einzige echte Racheakt in meinem ganzen Leben«, meinte Klaus dazu nur lapidar und fügte zufrieden lächelnd hinzu: »Und keineswegs einer, für den ich mich schäme.« Wie dem auch sei, der Vater starb nicht lange danach, während Klaus sich mit der rechten Hand daranmachte, Brandstätter & Söhne an die Börse zu bringen, und gleichzeitig mit der linken mehr und mehr seinen echten Leidenschaften frönte, in erster Linie der als verständiger Sammler und Förderer zeitgenössischer Kunst. Außerdem engagierte er sich zunehmend im Denkmalschutz der Insel Föhr, die über alle Zeiten und familiären Auseinandersetzungen und dem frühen Tod seiner Mutter hinweg sein liebster Rückzugsort geblieben war.
So entdeckte er um 1980 herum auch das Quedens-Haus, damals kaum noch mehr als eine traurige Ruine. Sein Zustand war so schlecht, dass inzwischen selbst die Quedens-Erben jegliche Hoffnung auf ein gutes Geschäft hatten fahren lassen und den Ballast einfach nur
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