Die unsicherste aller Tageszeiten
noch abstoßen wollten. Hinzu kam, dass sie sich mittlerweile auf dem Festland heimischer fühlten als auf der Insel, die für sie ein Stück Vergangenheit bedeutete, zu dem sie keinerlei echte Beziehung mehr verspürten. Sie waren keine Seefahrer mehr, Walfänger schon gar nicht, sie arbeiteten jetzt in Büros oder Handwerksbetrieben, auf dem Trockenen jedenfalls, und schufen sich eine neue, eigene Familiengeschichte, die komplett getrennt war von der Insulanerwelt ihrer Ahnen. Klaus kam zur rechten Zeit, obwohl ihnen jeder andere mindestens ebenso recht gewesen wäre. Bei anderen hätten sie vielleicht sogar noch etwas mehr rausgeholt, wohingegen es Klaus, der in geschäftlichen Dingen nicht zur Sentimentalität neigt, unbestreitbar ein väterliches Gen, gelang, den Kaufpreis zusätzlich noch um einige Tausend D-Mark herunterzuhandeln. Das so Gesparte steckte er in die Renovierung des Hauses und ließ das alte Walfänger-Domizil in vollendeter alter Pracht und Schönheit wieder auferstehen – mit modernster Inneneinrichtung zum Glück. Heute ist das Quedens-Haus eins der meistfotografierten Gebäude der gesamten Insel. Selbst bei Regen und Schlechtwetter glänzt diese architektonische Perle in ihrer zeitlosen Anmut und überstrahlt die bautechnische Tristesse, die sich in ihrer Umgebung breitgemacht hat und wie die beleidigte Antwort der Erde auf die miese Laune des Himmels wirkt.
Schon von Weitem sieht man den Torbogen, errichtet aus zwei gigantischen Unterkieferknochen von Blau- oder Pottwal – ich kann mir einfach nicht merken, welcher von beiden dafür nach hartem Kampf sein Leben lassen musste –, wahrscheinlich vom alten Quedens selbst erlegt. Wie magisch zieht er erst die Blicke, dann die Menschen an, wie eine Harpune, die dem Betrachter schmerzlos und sehr zu seiner Freude ins Fleisch fährt. Links und rechts davon, das Grundstück zur Straße hin abschließend, steht dieser für die Region typische Jägerzaun, ebenfalls aus Walbein errichtet. Beide, Bogen wie Zaun, sind nicht mehr strahlend weiß und auch nicht mehr glatt, die Erosion durch Luft und Wasser hat im Laufe der Jahrzehnte beständig daran genagt. Seltsam eigentlich, wenn man bedenkt, dass der Wal, dieses widersprüchliche Tier, Säugetier und trotzdem ein reines Meereslebewesen, beides zum Überleben braucht. Ich weiß nicht, wie oft ich schon meine Fingerkuppen über dieses alte Skelett gleiten und von der porös gewordenen Oberflächenstruktur kitzeln ließ. Und noch jedes Mal bekomme ich dabei einen Anfall von Fernweh, erweckt es in mir den Wunsch, selbst ein Wal zu werden, riesig, schwer und zugleich schwerelos in den Fluten, in denen er der alleinige Herrscher ist, die ihm nicht einmal der aggressivste Hai streitig machen kann, der plötzlich aus der Dunkelheit unter dir hervorschießt und sich in deine weiche Unterseite verbeißen will, aber nicht durchkommt durch die dicke Schutzschicht aus Fett dort, mag er auch noch so scharfe Zähne haben. So stelle ich mir Freiheit vor, Angstlosigkeit.
Hinter dem Zaun schließt sich ein kleiner Garten an, in dem von Frühjahr bis Spätherbst üppig die Blumen stehen und um den sich in Klaus’ Abwesenheit ein eigens dafür bestallter Gärtner kümmert. Wie die Blumen alle heißen, weiß ich nicht, Botanik ist absolut nicht mein Fachgebiet. Von ihrem reinen Nutzwert als Bringer von Schönheit oder Nahrungsmitteln einmal abgesehen, langweilen mich Pflanzen einfach nur, mein Interesse galt schon immer mehr dem Fleisch. Außer den üblichen Verdächtigen wie Rosen, Nelken, Gänseblümchen und Löwenzahn erkenne ich bestenfalls noch Gladiolen und Stockrosen, denn das sind Klaus’ Lieblingsblumen, die er nicht zuletzt im Garten seiner Hamburger Villa mit großem Eifer züchtet. Ganz klassisch mit Strohhut auf der kreisrunden Glatze und Gummihandschuhen an den Händen liebt er es, im Sommer mit gebeugtem Rücken in seinen Beeten zu hocken und sich der Gartenarbeit hinzugeben. Das entspanne ihn, behauptet er – und beklagt sich hinterher über Rückenschmerzen.
Dann kommt das Haus selbst, gar nicht mal so groß und noch kleiner wirkend durch das dichte Reetdach, dessen Traufe bis weit über die Hauswand nach unten ragt. Das Dach weist einen dunklen, morastigen Braunton auf, hie und da gesprenkelt von grünen Moostupfen, die Mauern hingegen sind ganz reinlich weiß, als würden sie jedes Jahr einmal abgeschrubbt werden. Die Fensterrahmen setzen sich darauf schwarz ab, ebenfalls der Türrahmen, und das
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