Die unsicherste aller Tageszeiten
einzigartig. Selbst wenn man sich irgendwann dann doch neu verliebt und einen Partner findet, der einen wirklich liebt und erfüllt, die erste Liebe ist unwiederbringlich dahin und mit ihr dieses wunderbare Gefühl des ersten Mals, nicht wahr?«
Ich wollte es nicht, aber ich fühlte einen gewissen Rechtfertigungszwang, dem ich natürlich sofort nachgab.
»Trotzdem, damit er schneller über mich hinwegkommt, halte ich es für besser, den Kontakt erst mal völlig abzubrechen, damit er sich beruhigen, auf andere Gedanken kommen kann. Vielleicht ist später dann mal eine Freundschaft zwischen uns drin, aber sicherlich nicht sofort.«
»Ja, klingt gut. Und mit wie vielen deiner Exfreunde stehst du heute noch in freundschaftlichem Kontakt?«
Außer Klaus mit keinem. Klaus ist mein einziger echter Freund, alles andere waren am Ende doch nur Bettgeschichten oder ist zu einer geschäftlichen Beziehung geronnen.
»Mit zwei oder drei«, antwortete ich.
Ich bin und bleibe ein Lügner, ob ich nun mit meiner Mutter spreche oder mit einem meiner Liebhaber. Sogar Klaus lüge ich regelmäßig offen ins Gesicht, wenn ich auch ihm gegenüber immer bemüht bin, zumindest so etwas wie eine halbe Wahrheit zustande zu bringen. Sobald ich mich irgendwie in die Enge gedrängt fühle, sobald ich glaube, die Kontrolle zu verlieren, bin ich bereit, alles zu tun, nur um sie zurückzuerobern. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue – und meistens ist es dann auch das Letzte, was geschieht. Das ist immer noch besser, als plötzlich das Gefühl zu haben, jemandem ausgeliefert zu sein, von jemandem abhängig zu sein, besonders gefühlstechnisch. Auch ich bin schließlich schon mehr als einmal und wirklich schrecklich verwundet worden. Mein Vater war der Erste, Karsten der Zweite. Klaus wäre vielleicht der Dritte geworden, hätte ich ihn gelassen, wäre ich ihm nicht zuvorgekommen und seitdem jedem anderen Kerl. Mein Vertrauen in den anderen schwindet, je näher wir uns kommen, je stärker wir anfangen, auf Augenhöhe miteinander zu kommunizieren. Wenn zum Sex das Gespräch hinzukommt, wenn das Begehren als Gleitmittel nicht mehr ausreicht und auch die kleinen, unbedacht geäußerten Flunkereien mir nicht mehr einbringen, was ich mir wünsche, wenn er sich plötzlich nur noch mit der Wahrheit an mich, an meinen Leib binden lässt. Die Wahrheit aber ist dann schon ein böses, schreckliches Ding, ein Monster, das in mir haust und ihn durch mich verschlingen wird, wenn ich sie herauslasse. Mehr noch als dass ich das nicht ertragen könnte, kann ich das nicht zulassen.
KAPITEL 7
Die Fähre läuft ein, entlädt ihre Fracht und nimmt sofort die neue auf. Ich bin der erste Fußgänger an Bord, auch weil meine Blase drückt und ich den morgendlichen Tee wegbringen muss. Beim Händewaschen im grellen Neonlicht vor dem Spiegel und Waschtisch juckt es mich plötzlich in der Nase, ein ärgerliches Kribbeln, das in einem lauten, pistolenknallartigen Niesen hinausschießt. Das überhelle Licht muss meine Schleimhäute gereizt haben, denke ich und niese gleich noch zweimal. Dieser Vorgang in seiner kraftvollen Explosivität scheint darüber hinaus das bisschen Schleim, das sich mir kratzend über meinen Rachen gelegt hat, hoch in die Nase geschleudert zu haben, wo es nun aus beiden Löchern tropft. Mit einem der gräulichen Papiertücher für die Hände putze ich mir schnaubend die Nase, bis die Atemwege wieder frei sind. Aber das Kratzen im Hals ist stärker geworden, als wäre die Luft, die ich herausgeniest habe, mit Schrapnellen gesättigt gewesen. Das fühlt sich nicht gut an. Darum beschließe ich, mir in der Cafeteria einen heißen Tee mit Zitrone zu holen, mich still in eine warme Ecke zu setzen und nichts weiter zu tun, als meinen Krimi zu lesen. Bis ich heute Abend am Ostbahnhof in Berlin wieder aus dem Zug steige, will ich ihn durchgelesen haben.
Ich lese vielleicht zwei Seiten, dann lullt mich die Heizungswärme auch schon so sehr ein, dass meine Konzentration flöten geht und meine Gedanken einmal mehr auf Wanderschaft. Die Wärme baut die Brücke, über die sie sich davonmachen, zurück an diesen anderen warmen Ort, keine vier Monate zuvor, wo er, nackt bis auf die Turnschuhe und begehrenswert, im dämmrigen Dunkel an die Trost spendende Wand gelehnt steht und vor lauter erregender Ängstlichkeit und berührender Unschuld nicht weiß, was er machen soll: Hannes.
Ich war schon früh dran und einer der ersten Nackten in diesem Etablissement
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