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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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der körperlich-sexuellen Ertüchtigung, das kein Bordell ist. Doch er muss noch vor mir gekommen sein, denn ich hatte mich wie immer zuerst einmal an die Bar gesetzt, ein Bier geordert und, solange ich es trank, meine Augen auf die Tür gerichtet, wenn immer die Klingel ertönte und einen weiteren Gast ankündigte, um diesen dann gleich zu fixieren und mir eventuell vorzumerken, Hannes aber auf diese Weise nicht entdeckt. Erst bei meinem ersten Rundgang durch das überheizte, noch weitestgehend neutral riechende Labyrinth im Untergeschoss wurde ich auf ihn aufmerksam, fiel mein Blick auf ihn, als hätte er nur auf mich gewartet. Ich näherte mich ihm, und er gefiel mir desto besser, je stärker sich seine Einzelheiten aus dem Zwielicht herausschälten. Ich blieb direkt vor ihm stehen, lächelnd, sowohl besänftigend als auch offen begehrend, und schaute ihm erst ein wenig in die Augen, bevor ich meinen Blick über seinen hoch aufgeschossenen Körper mit den langen, schlanken Gliedmaßen schweifen ließ. Die schwarze Nummer auf seinem rechten Oberarm war nicht nur ebenso einstellig wie meine und noch kleiner, er trug sogar die Nummer eins. Ich tippte sachte mit meinem Finger darauf, grinste breit und sagte:
    »Das ist die beste Nummer, die man hier bekommen kann.«
    Er erschauerte bei meiner Berührung, sah für einen Moment so aus, als wollte er weglaufen, doch dann fing er sich, schenkte mir ein zaghaftes Lächeln und sagte leise, fast flüsternd, obwohl wir hier unten noch so gut wie ganz allein waren:
    »Ich dachte, ich wäre zu früh.«
    »Und …«, sagte ich, eine Kunstpause einlegend, dabei langsam mit all meinen Fingerkuppen über seine hart werdenden Brustwarzen fahrend, »… denkst du das immer noch?«
    Er hauchte nur noch: »Nein.«
    Da wusste ich, der Abend würde gut werden.
    Ich bin aus Prinzip immer einer der ersten bei solchen Veranstaltungen, weil ich die Leere und abwartende Stille der Räumlichkeiten kurz vor dem Fleischsturm mag. Überhaupt bin ich überall, wo ich hingehe, immer gerne der Erste vor Ort, um zuzusehen und dabei zu sein, wie es sich langsam füllt, wie die anderen ankommen, um herauszufinden, wer die anderen denn eigentlich sind. Bevor es losgeht, ist alles nur unverdorbene Erwartung und reine Vorfreude auf das Kommende, eine den Blutfluss beschleunigende Kopfgeburt – die sich dann oftmals sogar als das Beste am ganzen Abend erweisen soll. Am Morgen einer solchen Nacht liegt der gesamte Sexclub geradezu wie verschlafen da, man fragt sich fast, warum in den Ecken nicht noch kühler Nebel hängt, und die wenigen Gestalten, die schon auf sind, können einander leicht ausweichen, wohl wissend, ihre Zeit würde erst noch mit der Vielzahl der Gäste kommen. Jetzt besitzt alles noch eine seltsame, durchsichtige Unschuld, besonders schön anzusehen, ja köstlich, eben weil sie so fadenscheinig ist und um ihre Vergänglichkeit weiß. Wie ein letztes Feigenblatt liegt sie über jedermanns entblößter Scham und befreit einen von dem Zwang, es fortzureißen und in hemmungsloser Lust zwischen den Leibern zu zerreiben. Sobald es hier voller nackter Haut und steifer Schwänze ist, bleibt von diesem keuschen Zauber nichts mehr übrig, dann muss man sich einfach der blinden Begierde unterwerfen, der die Dunkelheit zusätzlichen Vorschub leistet, denn die eingeschränkte Sehkraft oder gar vollständige Blindheit in der Darkroomschwärze und nicht Alkohol, andere Drogen oder Poppers sind die echten Aphrodisiaka solcher Orte.
    Normalerweise trinke ich ein erstes Bier, gehe dann auf einen ersten Rundgang durch das Cruisingareal und kehre für den einen oder anderen weiteren Drink zurück an die Bar. Ich warte, bis sich der Laden wirklich gefüllt hat, dann stürze ich mich richtig ins Getümmel. In dieser noch jungen Nacht aber blieb ich sofort an Hannes hängen, der, da hat meine Mutter schon recht, sonst eher nicht meinem Beuteschema entspricht, und zwar allein wegen seines Alters, seiner Jugend, mit der ich nichts anfangen kann. Trotzdem fühlte ich mich sofort von ihm angezogen, vielleicht weil ich in der Woche endlich mit einer neuen Bilderserie begonnen hatte und weil er da so verzagt an der Wand stand, augenscheinlich nicht wirklich wusste, was er hier wollte und nichts tat, seine Unerfahrenheit zu verbergen. Wie ein offenes Buch mit lauter weißen, leeren Seiten stand er vor mir, die unaussprechliche Bitte im Blick, ihn sich selbst zu beschreiben, damit er endlich wisse, wer er sei.
    Denn

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