Die unsicherste aller Tageszeiten
das wusste er wirklich nicht. Keine Jungfrau mehr – um seine Jungfräulichkeit zu verlieren, sollte man tatsächlich nicht auf eine Sexparty gehen – befand er sich dennoch erst in der Phase der Selbstentdeckung durch Sex. Bisher hatte er nur eine vage Vorstellung davon, was er wirklich mochte und was nicht, mit jedem Tag aber verlangte es ihn stärker nach Wissen, nach Klarheit, und allein deshalb hatte er sich in dieses Wagnis, dieses unvorhersehbare Abenteuer gestürzt. Die Unsicherheit drang ihm aus allen, vor Aufregung geweiteten Poren, aus der Art, wie er seine schlaksigen Glieder verrenkte, und auf möglichst unauffällige Weise seine Blöße zu verbergen suchte, weil er befürchtete, sie könnte, was Dicke und Länge anging, zu unzulänglich sein für diesen Ort und diese Gesellschaft. Er war ja schon viel zu früh dran, er trug die peinliche Nummer eins als ein für jeden sichtbares Schandmal auf dem Oberarm, und das war seinem Selbstbewusstsein nicht gerade zuträglich. Immer wieder drängte der schrecklich verlockende Impuls, wegrennen zu wollen, gegen ihn an, weil sich alles, was er an Schmutzigem, Unappetitlichem, Abgründigem über diesen Teil der schwulen Szene gehört an, schlagartig zu bewahrheiten schien. Doch er hielt stand und musste ja auch gar nicht lange warten.
Dass ich ihn so bald ansprach, war eine Erlösung für Hannes. Dass ich dann auch noch so gut aussah, musste die Erfüllung seiner wildesten Träume sein. Ich lotste ihn in eine der wenigen abschließbaren Kabinen, und dadurch fühlte er sich sicher und geborgen genug, dass er schon nach kürzester Zeit alle Hemmungen fahren lassen konnte. Bei aller stillen Unbescholtenheit, ja fast schon Biederkeit, die er in seiner Straßenkleidung erweckt, der brave Bursche von nebenan, der kein Wässerchen trüben kann, besitzt er nicht nur eine sehr tief gehende verruchte Ader, sondern auch die nötige Bereitwilligkeit, diese bis auf ihren Grund auszuloten. Ein Wesenszug, den wir beide teilen – der Grundstein unserer gesamten Beziehung. Außerdem fühlte ich mich jetzt, mit Anfang dreißig, ganz plötzlich alt und reif genug, auch einmal selbst so etwas wie die Rolle des Lehrmeisters zu übernehmen, ein Mentor zu sein, der die hehre Verantwortung auf sich nimmt, einen Novizen in die hohe Kunst des mannmännlichen Geschlechtsverkehrs einzuführen. Bisher hatte mich das niemals interessiert, auf einmal lag darin die größte Verlockung überhaupt, und ich kann einer Verlockung nie widerstehen. Wir hatten sehr zärtlichen Sex miteinander in dieser Nacht, nichts Wildes, nichts wirklich Animalisches – kein gutes altes Kotstechen etwa, denn dazu war Hannes noch nicht bereit gewesen. Wir machten beinahe schon echte Liebe an diesem öffentlichen Ort, intensiv und intim, und verließen die Abgeschiedenheit unserer Kabine höchstens einmal, um uns ein Getränk zu holen oder aufs Klo zu gehen; wir konnten einfach nicht voneinander lassen. Was auch immer ich von ihm verlangte, er machte alles mit und bewies dabei ein Talent, das mit der Note befriedigend kaum richtig zu umschreiben ist. In den Pausen lagen wir eng umschlungen da und unterhielten uns, bis uns die unmittelbare Nähe oder das unentwegte Keuchen und Stöhnen und Grunzen und entleerende Seufzen jenseits der dünnen Trennwand zum Weitermachen animierte. Es war so schön, dass wir selbst, als wir völlig ausgepumpt waren und wirklich nicht mehr konnten, trotzdem noch immer mehr wollten und den Morgen, der das Ende dieser erfüllenden Nacht anmahnte, mit einem Anflug von Trauer und Verärgerung begrüßten. Wir hätten am liebsten ewig so weitergemacht.
Ich neige dazu, Leidenschaft mit Zuneigung und Lust mit Liebe wenn nicht bewusst zu verwechseln, so doch aber gleichzusetzen. Wenn es mir mit jemandem gefällt, dann gefällt es mir auch bei ihm, selbst wenn ich von Anfang an spüre, dass das, was ich empfinde, eigentlich nicht dazu taugt, dem Moment Dauer zu verleihen, dass ich das sich nach dem Geschlechtsakt aus der gemeinsamen Anstrengung und Erschöpfung ergebende Kuscheln als Fortsetzung des Genusses zwar noch mitnehmen darf, dann aber die Sache eigentlich sofort beenden sollte. Stattdessen will ich mehr und immer mehr davon und höre nicht auf, es sei denn, der andere sagt von sich aus Stopp.
Hannes sagte nicht Stopp, im Gegenteil, ihm gefiel, dass es weiter und immer weiterging, dass er scheinbar ausgerechnet an diesem unwirtlichen Ort den Mann seiner Träume gefunden hatte. Das
Weitere Kostenlose Bücher