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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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Rest meines Lebens den Hampelmann für eine Horde Schüler außer Rand und Band geben zu sollen, auch nur den geringsten Reiz auf mich aus. Ich schmiss also mein Studium, allerdings vorerst noch ohne eine offizielle Mitteilung, blieb zwar eingeschrieben, ging aber nicht mehr zu den Veranstaltungen, machte mir stattdessen lieber Gedanken, wie und wo ich am besten erreichen konnte, wovon ich träumte, nämlich ein berühmter Maler zu werden – und in den Denkpausen Hamburg unsicher.
    So lernte ich auf meinen Streifzügen durch die Stadt das Café Gnosa in der Langen Reihe kennen. Eine echte Entdeckung, denn bald schon wurde es für mich zu einem Erholungs- und Kurort, an dem ich mich von den sexuellen Ausschweifungen, an denen ich schon damals eine unbändige Lust fand, regenerieren konnte. Bis zu meinem Herzug hatte ich, von einer großen Ausnahme einmal abgesehen, eher enthaltsam gelebt, kaum war ich aber hier, verwandelte sich mein Leben in eine einzige Wildwasserfahrt auf einem Fluss aus Körperflüssigkeiten, ständig am Rande des Kenterns, des Zerschellens an einem Felsen oder des Sturzes einen Wasserfall hinunter. Das unbändige Verlangen ließ sich einfach nicht länger unterdrücken. Und nicht immer war genügend Gummi fürs Boot vorhanden. Aber das schlechte Gewissen und die Angstschübe setzen ja grundsätzlich erst hinterher ein, wenn man wieder mit sich allein ist und die Verletzungen zählt, die man sich geholt hat.
    Zum ersten Mal seit Tagen erfüllt mich eine ungetrübte Freude, als ich das Café betrete und die warme, mit Kaffee- und Kuchenaromen geschwängerte Luft einatme. Ich begrüße sogar lächelnd den Kellner, der mir bekannt vorkommt, obwohl ich weiß, dass ich ihn noch nie gesehen habe. Aber hier sehen alle Kellner immer gleich aus. Wer auch immer diese jungen Männer hier einstellt, sein Geschmack hat sich über die Jahre nicht verändert. Es sind immer alles Mittzwanziger mit sportlicher Figur und Dreitagebart, Haarfarbe egal. Dieser hier ist ein hübscher kleiner Brünetter.
    Ich setze mich an einen Tisch gegenüber der Kuchenvitrine, weiß aber natürlich schon längst, was ich bestellen werde. Deshalb warte ich die Karte gar nicht erst ab, die mir der Kellner bringt, noch während ich mich aus der Jacke pelle, sondern sage gleich: »Einen Kaffee und ein Stück Birnen-Rahm-Tarte, bitte.« Nichts passt besser zu der gediegenen Atmosphäre, der gedämpften Musik und dem Gemurmel der Gespräche im Hintergrund als eine Tasse Kaffee und ein Stück Birnen-Rahm-Tarte. Wie oft habe ich das damals doch zu mir genommen zwischen wüsten Malattacken und ausschweifenden Ausflügen in die Hamburger Darkrooms und Saunen. Wie oft saß ich hier, um mich von dem einen wie dem anderen zu erholen. Wenn es jemals einen Ort in dieser Stadt gegeben hat, an dem ich mich zu Hause fühlte, dann ist es dieser. Und sein alter Zauber wirkt immer noch, ich entspanne mich augenblicklich, bin ganz bei mir und fühle mich wohl damit. Selbst das »Kommt sofort« des Kellners nehme ich kaum wahr. Als hätte ich mir mit der Reisetasche nicht nur eine physische Last vom Rücken gestreift, sinke ich auf die ledergepolsterte Rückbank zurück, schließe kurz die Augen und sehe mich dann an meinem alten Hamburger Lieblingsort um, um festzustellen, dass sich hier absolut nichts verändert hat. Man hat gerade erst aufgemacht, außer mir sitzt nur ein Altherrenpärchen im hinteren Teil des Raums und frühstückt ausgiebig. Ich sehe meine fadenscheinige Reflexion im Vitrinenglas und erahne das Lächeln auf meinen spröden, dehydrierten Lippen.
    »Bitte sehr.« Der Kellner stellt die Tasse schwarzen Kaffees und den Teller mit dem Stück Tarte vor mir auf den Tisch, Steingut und Besteck klirren leise. Die Kuchengabel legt er daneben auf eine blaue Serviette. Er lächelt mich mit großen Augen an, ich sehe, wie hübsch er ist, und denke, wenn ich wollte, könnte ich ihn haben, da kann es noch so früh am Tag sein und ich noch so scheiße aussehen, er ist willig wie ein Rüde, der eine läufige Hündin erschnuppert hat: So, wie er mich ansieht, verliert er wohl gerade seinen Verstand.
    »Danke«, sage ich und lächle zurück. »Ob ich bitte auch noch ein Glas Wasser haben könnte?«
    »Natürlich, sofort.« Er lächelt noch breiter, und auch ich genieße dieses kleine Geplänkel, dieses Spiel mit der Möglichkeit.
    Es dauert keine Minute, ich hab kaum den ersten Bissen Backwerk im Mund, da steht er schon wieder an meinem Tisch und

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