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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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ich meiner Leidenschaft: der Malerei. Kurse hatte ich schon immer besucht. Parallel zum Gymnasium, wo der Kunstunterricht nichts anderes als eine inspirationslose Beschäftigungstherapie für gelangweilte Schüler war, bin ich jahrelang zur Volkshochschule gerannt. Während meines Wehrdienstes leistete ich mir von meinem Sold eine Privatlehrerin, Frau Isolde Meier-Plogstedt, ein altes Achtundsechziger-Schlachtross mit enormem Wein- und Zigarettenverbrauch, dreckigem Humor und einer sympathischen Unangepasstheit – und, jedenfalls behauptete sie das öfter mal in ihrer Weinseligkeit, einer kurzen Affäre damals in Paris mit einer berühmten französischen Philosophin. Sie gab mir die Technik an die Hand, die ich brauchte, um mein Talent richtig nutzen zu können.
    »Wenn du ein großer Künstler werden willst, dann musst du frei und unabhängig sein«, predigte sie mir mit ihrer Reibeisenstimme. »Du musst alle deine Ängste und Befürchtungen über Bord werfen und dich von allen Vorschriften lösen. Bleibst du in deinem Handeln und Denken angepasst, dann wirst du auf ewig nur ein kleines Licht bleiben, dann wird aus dir ein Bankangestellter, ein Jurist oder vielleicht sogar ein Politiker. Nur wenn du dich von all dem ganzen gesellschaftlichen Scheiß frei machst, wird aus dir ein wirklich großer Künstler. Die Anlagen dazu hast du, also nutze sie.«
    Ich hab sie sehr geliebt und ihren Verlust sehr betrauert. Sie fuhr nämlich auch besoffen Auto, da kannte sie nichts, und eines Nachts, kurz vor Ende meines Mädchen-in-Uniform-Jahres, sie kam gerade von der Vernissage eines Künstlerfreundes in einer Lübecker Galerie zurück, verpasste sie kurz vor zu Hause eine Kurve der Bundesstraße. Sie und ihr Wagen zerschellten an einer uralten Linde, die im Anschluss ebenfalls gefällt werden musste. Isolde Meier-Plogstedt hatte laut Polizeibericht 1,5 Promille im Blut, ich weinte unaufhörlich auf ihrer Beerdigung und brauchte ungefähr eine Woche, um mich von dem Schock ihres plötzlichen Todes zu erholen.
    Dann gewann die Erinnerung an ihr lebensbejahendes Wesen in mir die Oberhand, die Überzeugung, dass die Tatsache, mitten aus dem prallen Leben gerissen worden zu sein, eigentlich das Beste war, was ihr hatte passieren können. Außerdem radierte ich mir den Schock von der Seele. Ich fertigte eine kleine Radierung an – wie das ging, hatte sie mir gezeigt – Isolde nach dem Crash, blutig und brutal, aber danach ging es mir besser. Um es endgültig ihrem Andenken zu widmen, bin ich eines Tages kurz vor Toreschluss auf den Friedhof gegangen und habe es zwischen den Blumen auf ihrem Grab ebenfalls bestattet, mein letzter Gruß an diese großartige Frau, die mir als Erste gezeigt hat, wie man wirklich lebt. Mehr denn je wollte ich nun so sein wie sie, und deshalb fuhr ich nach Paris und ging ich nach Hamburg, um erst einen anständigen Beruf zu erlernen – ich meinte immer noch, meinen Eltern etwas schuldig zu sein – und dann Maler zu werden.
    Draußen vor dem Fenster, sei es nun das des Gnosa oder meiner Wohnung, war Hamburg nichts weiter als der Schauplatz einer immerwährenden Orgie für mich, in meiner kleinen Einzimmerbude in Horn aber, mehr konnte ich mir damals nicht leisten, die Hansestadt ist und bleibt ein teures Pflaster, feilte ich an meiner Technik und Ausdruckskraft, dass die Späne, Grafit, Pinselhaar, Ölfarbe, Papier, dann und wann echte Leinwand, nur so flogen. Was ich malen wollte, wusste ich längst, ich brauchte nur eine ganze Weile, bis ich die dafür nötige Fertigkeit entwickelt hatte. Und da allein Übung den Meister macht, übte ich wie der Teufel. So, wie ich mich in dieser Zeit sexuell ausprobierte, probierte ich mich auch künstlerisch aus, und sobald ich eine Erfahrung durchhatte, warf ich ihr erst nach und nach befriedigend werdendes Ergebnis immer gleich wieder weg. Allem, was ich tat, stand ich mit einer derart erbarmungslosen abschätzenden Kälte gegenüber, die es mir erlaubte, mir jedes falsche, weil sentimentale, Lob zu verwehren. Mein härtester Kritiker war und bin ich selber. Deshalb kann ich heute mit Fug und Recht behaupten, dass meine Reifung sehr, sehr schnell vonstattenging. Was ich fertig habe und mir nicht mehr vermitteln kann als den Eindruck, ein gutes Stück Übung gewesen zu sein, verwerfe, vernichte ich sofort, so bleibt nur mein reines Werk erhalten.
    Als ich so weit war, meine Arbeit der Welt zu zeigen – ich hatte damals ein schier grenzenloses Selbstvertrauen –

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