Die unsicherste aller Tageszeiten
stellt ein kleines Glas Wasser neben meine dampfende Tasse. Außen am Glas sind ein paar Tropfen hinabgelaufen, seine Hand zittert jetzt leicht, nach seinem erneuten »Bitte sehr« entfernt er sich nicht gleich wieder hinter die Theke, sondern bleibt stehen und schluckt. Wahrscheinlich will er zum ersten Mal einen seiner Gäste aufreißen, wahrscheinlich ist ihm das nicht erlaubt. Ich hatte hier schon einmal Sex, mit einem anderen Gast, nicht mit einem der Kellner, kurz vor Ladenschluss, ein Blowjob unten auf der Toilette. Die Vorstellung, mit ihm hier eine kleine Nummer zu schieben, ist also gar nicht so abwegig. Und er ist echt süß, hat so eine liebe und doch durch und durch virile sexuelle Ausstrahlung, als würde er noch stärker von einer gemeinsamen Zukunft träumen als ich im Moment. Genau das will ich doch auch. Erwartungsfroh und gar nicht mehr so sicher, wie ich reagieren werde, lege ich die kleine Gabel hin, sehe zu ihm hoch und lächle ihn aufmunternd an: Trau dich, sprich!
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie belästige.« Er spricht tatsächlich, total aufgeregt, mit glänzenden Augen. »Ich habe Sie sofort erkannt und weiß, dass Sie hier früher Stammgast waren. Ich bin ein großer Fan von Ihnen, bin letztes Jahr sogar extra nach London gefahren, um Ihre große Ausstellung in der Tate zu sehen. Ich bin Kunststudent und … und … Ich bewundere Sie so sehr, wie Sie alles Abstrakte in Ihren Bildern ausschalten und gerade dadurch etwas so Hochallegorisches zustande bringen …« Unfähig, weiterzusprechen, holt er etwas aus seiner rechten Gesäßtasche hervor, ein Hochglanzblatt Papier aus irgendeinem Magazin, das er mehrfach entfaltet und zusammen mit einem Kugelschreiber ehrfürchtig vor mich auf den Tisch legt.
Ich erkenne eins meiner Gemälde und ein passbildgroßes Foto von mir in der unteren Ecke des Artikels.
»Ich hab immer davon geträumt, Ihnen hier einmal während meiner Schicht zu begegnen.« Wie das Kind vorm geschmückten Tannenbaum steht er da und ringt die Hände, sein Glück ob des erhaltenen Geschenks kaum fassen könnend.
»Ob ich Sie um ein Autogramm bitten dürfte? Das wäre das Höchste überhaupt.«
Meine Körpertemperatur sackt binnen Millisekunden um mehrere Grade ab, einmal mehr verwandelt sich mein Mageninhalt in einen eisigen Klumpen der Enttäuschung. Ich blicke konsterniert zu meinem Anbeter auf, der mich scheinbar so sehr bewundert, dass er gar nicht mehr imstande ist, mich, den Menschen, zu sehen, sondern nur noch den Künstler, das Genie, das nicht nur Zeit und Raum entrückt ist, sondern auch aller Fleischlichkeit. Mein Lächeln gefriert, der süße Geschmack in meinem Mund wird bitter, ich weiß nicht, wonach mir mehr ist, nach Heulen oder Schreien. Eigentlich sollte ich mich geschmeichelt fühlen, als ein solches Idol zu gelten, aber diese Phase meiner Karriere habe ich längst hinter mir gelassen, und ausgerechnet heute hätte ich keine unterwürfige Anbetung gebraucht, heute hätte ich menschliche Zuwendung nötig gehabt.
Soll ich einfach aufstehen und gehen? Soll ich beleidigt sein und den armen Jungen zur Sau machen, einen Skandal provozieren? Und was dann? Dann steh ich wieder auf der Straße und weiß wirklich nicht mehr, wohin, denn mein Zug fährt immer noch erst in über einer Stunde, und zu Klaus kann ich in diesem Zustand einfach nicht gehen. Ich könnte natürlich schon, er würde mich niemals abweisen, aber ich will nicht, dass er mich so sieht.
Ich bleibe sitzen und leiste meine Unterschrift, innerlich zusammengeschrumpelt wie ein T-Shirt, das zu heiß gewaschen worden ist. Ich passe mir selbst nicht mehr – und da weiß ich wieder, warum ich unterwegs nach Föhr bin und warum ich damals Hamburg verlassen habe. Hamburg. Dabei fing hier alles so gut an, in Hamburg.
»Danke«, sagt der Kellner voll glühender Verehrung und schwebt davon.
»Bitte«, antworte ich mechanisch und bleibe sitzen, wo ich bin; ein Sandsack, an den man Arme und Beine geschraubt hat, die nicht funktionieren. Meine Tarte hat keinen Geschmack mehr, mein Kaffee ist kalt, mein Appetit hat sich in Brechreiz verwandelt, trotzdem leere ich Tasse und Teller. Aus einer Familie der Futterneider kommend, kann ich natürlich nichts verkommen lassen.
Hamburg. Wenn ich mich nicht gerade kreuz und quer durch die schwule Szene der Stadt vögelte, durch ihre Partys, Saunen, Parks, Klappen und auch das eine oder andere Bett – ich war wirklich viel nackt im Dunkeln unterwegs – frönte
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