Die unsicherste aller Tageszeiten
Weisheit nicht absondern würde und er sich damit abgefunden habe.
»Und im Sommer ist es immer zu kalt«, meint daraufhin die Witwe.
»Richtig.« Wieder die Ehefrau. »Da haben sie heute so moderne Züge, aber wie man die richtig beheizt, haben sie noch immer nicht herausgefunden.«
»Jaja, früher war alles besser«, murmele ich, als ich mich wieder hinsetze, und sehe aus dem Augenwinkel, dass die elegante Dame zu meiner Linken ein Lächeln unterdrückt. Ich zwinkere ihr andeutungsweise zu, als seien wir Komplizen bei einem Trickbetrug.
»Ach, junger Mann …«, sagt da die Ehefrau zu mir, »ob Sie wohl so freundlich sein können, auch unser Gepäck auf die Ablage zu packen?« Endlich hat sie genug Mut getankt, um vor mir die Notdurft ihres Anliegens zu verrichten, zu der sie garantiert die ihrer Vorgängerin inspiriert hat, denn von allein wäre diese einfältige Kuh niemals auf eine solch revolutionäre Idee gekommen. »Wissen Sie, ich bin zu schwach dafür, und mein Mann hat es im Rücken«, fügt sie unnötigerweise hinzu.
Nachdem ich beim ersten Mal nicht Nein gesagt habe, kann ich es jetzt natürlich noch weniger. Also gebe ich noch einmal den Kofferkuli – während der Koffer der Frau einmal mehr einen ganzen Hausstand zu beinhalten scheint, ist der des Mannes seltsam leicht, so als brauche er kaum noch etwas zum Leben, und verströmt einen allzu deutlichen Geruch nach herbem Aftershave. Ich hege den stillen Verdacht, da könnte etwas ausgelaufen sein, sage aber nichts, das würde nur zu ungesunder Aufregung führen, und ich will nun absolut nicht, dass unsere gemeinsame Reise wegen des Nervenzusammenbruchs einer über ihren im Alter immer idiotischer werdenden Ehemann keifenden Vettel über Gebühr durch einen Halt auf freier Strecke verlängert wird. Solange es nicht aus den alten Ledernähten tropft, ist auch nichts geschehen. Und die Stimmung im Abteil wird immer entspannter.
»Ach, junger Mann«, bedankt sich die Ehefrau nahezu überschwänglich bei mir, »das ist so freundlich von Ihnen. Vielen Dank. Das ist ja heute nicht mehr selbstverständlich.«
Worauf die Witwe, als sei sie das dazugehörige Echo, einwirft: »Da sagen Sie aber mal was! Die jungen Leute von heute sind ja teilweise so schlecht erzogen. Kaum einer macht einem noch einen Platz frei im Bus oder in der Bahn.«
»Also ich hoffe doch, dass wir unseren Kindern da bessere Manieren beigebracht haben.«
Ich blende das Geschnatter der dementen Zugvögel aus und wende mich der eleganten Dame zu, die alles mit einem feinen kleinen Grinsen beobachtet hat.
»Wo ich schon einmal dabei bin …« Mit dem Kinn deute ich auf ihren Koffer, der neben ihr zwischen Sitz und Abteilwand klemmt. »Soll ich Ihren Koffer auch hochstellen?«
»Nein, danke«, winkt sie ab, »das geht so ganz gut. Aber vielen Dank, dass Sie fragen.«
»Bin halt gut erzogen«, antworte ich, und ihr Kichern stimmt mich sehr versöhnlich. Neben ihr immerhin mag ich gerne sitzen, mit ihr würde ich mich sogar unterhalten, denn ich spüre einfach, dass mit ihr eine echte, tiefer gehende Unterhaltung möglich wäre als mit den anderen beiden dummen Hühnern, die zumindest den zweiten Mann in diesem Abteil längst in den Hirntod getrieben haben. Aber leider hat sie kein Interesse an einem Gespräch mit mir, sondern vertieft sich nun endlich in ihr Buch, das bereits seit geraumer Zeit in ihren Händen gelegen hat. Meine offenen Nervenenden registrieren es mit Bitterkeit als Zurückweisung und schelten mich wie schon im Zug zuvor, als ich auf das blöde Reisemagazin als Lektüre angewiesen war, einen Idioten, weil ich jetzt nicht nur mein Buch zu Hause vergessen habe, sondern auch während der ganzen langen leeren Wartezeit in Hamburg nicht einmal auf die Idee gekommen bin, mir eins im Bahnhofsbuchhandel zu besorgen.
Nachdem ich aber nun die dringendsten Bedürfnisse der Faltenfraktion befriedigt und es mir unter meiner Winterjacke im Sitz bequem gemacht habe, eingelullt von der tatsächlich zu starken Heizungswärme und dem Wiegenlied der Zugfahrt, fühle ich mich immerhin so weit entspannt, dass mich selbst die Befürchtung, eventuell meinen Zielbahnhof zu verpassen, nicht mehr vom Einschlafen abhalten kann. Ich schlafe tief und fest, ich denke, ich schlafe traumlos. Dann aber geht ein mächtiger Ruck durch den Zug und bringt ihn abrupt zum Stehen, als wären wir mit voller Wucht gegen einen Prellbock gefahren, und vor meinem inneren Auge zerspringt das zerkratzte Abbild
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