Die unsicherste aller Tageszeiten
eines mir nur allzu bekannten Gesichts in tausend schmelzende Scherben.
»Was war das?«, fragt die Ehefrau mir gegenüber.
»Sind wir irgendwo gegengefahren?«, stimmt ihre Schwester in Erziehung und im Geiste, die Witwe, mit ein.
»Nein«, erinnert sich da der Ehemann seiner angestammten Rolle in diesem heterosexuellen bürgerlichen Ehetrauerspiel und spricht mit träger, aber selbstgewisser Stimme: »Der Lokführer hat nur zu scharf gebremst, das ist alles.«
»Kann der denn nicht ordentlich bremsen?« Wieder die Witwe. »Da bekommt man ja vor Schreck noch einen Herzinfarkt.»
»Wo sind wir denn überhaupt?«, fragt die Ehefrau.
»Heide«, sagt der Ehemann, und erst da öffne ich meine Augen.
Heide. Karsten! Sein Gesicht hatte der Ruck eben zu Bruch gehen lassen. Ich werfe einen Blick aus dem Fenster, suche den Bahnhof nach einer Bestätigung ab und finde sie einen Bahnsteig weiter, wo groß auf einem Schild steht: ›Heide (Holstein)‹. Heide und Karsten – diese beiden Begriffe, dieser Ort und dieser Mann gehören für mich zusammen. Doch die Erkenntnis über unseren Aufenthaltsort setzt sein Bild augenblicklich wieder zusammen. Seine grauen, wie wolkenverhangenen Augen, hinter deren Lidern wahrscheinlich schon seit seiner Geburt jeden Tag die Trauer sich abregnete, sehen mich so lebensecht an wie früher. Sein schönes Lächeln immer noch zu einer furchtsamen Andeutung verwässert.
Ob ich will oder nicht, und ich weiß nicht, ob ich es gerade will oder ob es nicht ausnahmsweise einmal besser sein könnte, dem Altweibergeschwafel zuzuhören, wie ein Schwall widerlicher Magensäure steigen sofort die Erinnerungen in mir auf, und ich kann mich nicht gegen ihre Übermacht wehren. Er war meine erste große Liebe. Und die vergisst man niemals, behauptet jedenfalls meine Mutter, womit sie mir wohl sagen wollte, dass es sogar in ihrer grauen Hausstaubexistenz noch jemanden vor meinem Vater gegeben hat.
Damals Ende zwanzig, war Karsten ein voll ausgewachsener Baum von einem Mann: einen Meter neunzig hoch, schrankbreite Schultern, starker Haarwuchs am ganzen Körper und unglaublich große, kräftige Hände, mit denen er sowohl ordentlich zupacken als auch sehr zärtlich sein konnte – ein Bild von einem Mann, besonders aus meiner Perspektive des heranwachsenden, nach Halt und Geborgenheit suchenden Jugendlichen. Er war ein echter arischer Archetyp, wenn man so will, der zu einer anderen Zeit sofort in jedes rassische Zuchtprogramm aufgenommen worden wäre – und er hätte sich bestimmt nur allzu gerne zum Zuchthengst degradieren lassen, denn ein solches Dasein in einer solchen Anstalt hätte ihm auf jeden Fall so manche Unsicherheit erspart. Karsten arbeitete als Buchhalter für eine große Versicherung und in seiner Freizeit ehrenamtlich als Jugendtrainer im Tennisverein. Er war verheiratet und hatte zwei kleine Kinder, vier und zwei Jahre alt, mit denen er am Wochenende auf den Jahrmarkt ging oder am See spielte, wenn er nicht gerade auf dem Tennisplatz zu tun hatte. Sein Engagement für Familie und Gemeinwohl wurde allseits gelobt. Karsten war, trotz oder gerade wegen seiner noch jungen Jahre, ein geachtetes Mitglied der Gesellschaft – und wenn er es nicht mehr aushielt, diesen ständigen Druck, den perfekten Ehemann, Vater, Arbeitnehmer und Ehrenamtler zu spielen, dann setzte er sich in sein Auto und fuhr zum nächsten Autobahnrastplatz, der als einschlägiger Treffpunkt bekannt war und die es überall gibt, in die sie sich vornehmlich mit der hereinbrechenden Dunkelheit verwandeln, und besorgte sich das, was ihm weder seine Frau geben noch wozu er offen stehen konnte. Schnell, heimlich, anonym, entleerend und geplagt von Reue und Schuldgefühlen, die lästiger und hartnäckiger noch als Filzläuse sind, aber wenigstens für den Moment die Nerven beruhigt, kehrte er danach wieder heim, seine nächtlichen Ausfahrten nicht weiter erklärend, und vielleicht auch gleich noch den Beischlaf mit seinem ihm angetrauten Eheweib vollziehend, um Buße zu tun. Risikoverhalten in jeder Hinsicht und für alle Beteiligten und trotzdem scheinbar immer noch besser als ein offen schwules Leben.
Wie oft er nebenbei noch etwas mit seinen Tennisschülern angefangen haben mag, weiß ich nicht zu sagen, ich bin mir heute nur ziemlich sicher, nicht der Einzige gewesen zu sein. Zu meiner Zeit schon, da war ich der Einzige für ihn, aber es muss nach und auch vor mir schon andere gegeben haben. Dafür handelte er zu
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