Die unsicherste aller Tageszeiten
mich in ihr Gemecker mit einzubeziehen. Ich habe nichts mit ihnen gemein, überhaupt bin ich ja nur zufällig hier gelandet und gehöre eigentlich in die erste Klasse.
Sobald einigermaßen Ruhe eingekehrt ist im Zug, seine Fahrt ihren eigenen Rhythmus gefunden hat und dieser Rhythmus ungefähr dem Pochen meines Herzens entspricht, das mit seiner schönen Regelmäßigkeit meine blutig aufgekratzten Nerven beruhigen will, da werde ich auch schon wieder gestört. Es ist die Schwarze Witwe neben mir am Fenster, und es überrascht mich nicht im Geringsten, dass ausgerechnet sie etwas von mir will. Wer sich so als Anhängsel eines Mannes inszeniert, noch dazu eines verstorbenen, der kann ja nichts allein gebacken kriegen.
»Junger Mann? Junger Mann?«, sagt sie mit ihrer brüchigen Stimme und tätschelt meinen Arm. »Sind Sie wach? Schlafen Sie, junger Mann?«
Erst tue ich weiter so, als würde ich schlafen, vielleicht lässt sie dann wieder von mir ab und belästigt jemand anderen mit ihrem nichtigen Problemchen. Stattdessen zwickt sie mich nur noch energischer mit ihren Klauenfingern in die Armbeuge.
»Junger Mann, bitte, ich brauche Ihre Hilfe.«
Das klingt so überzeugend hilflos – ein Leben lang an ihrem Ehemann geübt, bis er endlich erleichtert ins Gras beißen durfte, jede Wette – dass ich einfach die Augen öffnen und sie ansehen muss, wie bei einem Pawlow’schen Reflex. Und da sitzt sie, klein und schwarz von oben bis unten, den topfförmigen Hut mit dem Fetzen Trauerschleier noch immer auf der weißen Dauerwelle, in ihrem für die Wärme im Abteil viel zu dicken Mantel, mit einer riesigen sackartigen Handtasche im Schoß und ihrem kompakten kleinen Rollkoffer, der schon so aussieht, als wäre er mit Ziegelsteinen gepackt, zu ihren Füßen.
»Ja, was ist denn?«
»Nun werden Sie doch nicht gleich so unfreundlich! Ich hab doch nur eine klitzekleine Bitte an Sie.«
Sie versucht es jetzt mit Koketterie, damit die Spannung zwischen uns nicht eskaliert. Und weil ich die erwartungsvollen Blicke der vier anderen Rentner auf mir spüre, die sich gar nicht vorstellen möchten, dass man einer so netten alten Dame einen Wunscheiner abschlägt, und ich mich überhaupt nicht mehr in der Stimmung befinde, jetzt eine Auseinandersetzung zu beginnen, die sich dann eventuell die ganze Zeit bis nach Dagebüll hinzieht und mir wieder die Chance auf Erholung nimmt, spiele ich eben mit und gebe ihr den jugendlichen Galan.
»Die da wäre?«, frage ich und richte mich in meinem Sitz auf.
Sie schmilzt sofort dahin zu einem sirupsüßen Pfläumchen, wie man es ihr wahrscheinlich spätestens als Backfisch in der Tanzschule als das korrekte Benehmen in einer solchen Situation beigebracht hat.
»Wissen Sie«, sagt sie und kichert albern, als würde es gleich richtig zotig werden, »es ist so warm hier drin und ich würde gerne meinen Mantel ausziehen. Aber dafür müsste ich aufstehen, nur kann ich das leider nicht, weil mir mein Koffer den Weg verstellt. Ich habe leider vorhin vergessen, ihn auf die Ablage zu legen. Deshalb möchte ich Sie jetzt bitten, das für mich zu tun. Könnten Sie das für eine arme alte Frau wie mich tun, das wäre wirklich sehr, sehr nett von Ihnen.«
Viel fehlt nicht und sie fängt noch an, mit den Wimpern zu klimpern. Bevor es dazu kommt, komme ich lieber ihrer Bitte nach.
»Aber natürlich, Gnädigste«, sage ich, und schon hieve ich ihren Koffer, der wirklich mit Steinen gefüllt oder ein mit Stoff bespannter Klumpen Metall zu sein scheint, auf die Ablage über unseren Köpfen, auf der sich bisher nur meine eigene Sporttasche befindet. Leider ist die alte Schachtel immun gegen meine Ironie, denn ich habe meine Bewegung noch nicht ganz abgeschlossen, da steht sie auch schon neben mir, dreht mir den Rücken zu und erwartet ganz selbstverständlich von mir, dass ich ihr aus dem Mantel helfe. Also helfe ich ihr auch noch aus der Aussegnungskutte und hänge sie an den dafür vorgesehenen Haken neben dem Fenster.
»Vielen, vielen Dank, junger Mann«, sagt sie und sitzt längst wieder, »das ist mir eine große Erleichterung. Dass die auch immer so die Heizung aufdrehen müssen in diesen Waggons.«
»Ja, da haben Sie recht«, springt darauf prompt die Ehefrau von gegenüber an wie ein hungriger Hund auf einen auch noch so abgenagten Knochen. Ihr Mann nickt immerhin beifällig, ansonsten wirkt er, als habe ihn längst der Hitzschlag getroffen – oder die Erkenntnis, dass seine Göttergattin mehr
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