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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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und die entscheidet gnadenlos über Anziehung und Ablehnung, das Fühlen dagegen geht mit der Imagination zusammen, und die ist in ihrer Art wahllos demokratisch. Und hemmungslos. Wenn sich dazu noch die Dunkelheit gesellt, dann können Träume wahr werden, ist man bereit, sich fallen zu lassen, eigene Barrieren zu durchbrechen und Tabus zu überwinden. Man lässt sich gehen, Bedenken verwandelt sich in Lust, Gefahr – Angst – in Rausch. Und dann stöhnst und schreist du und kannst nicht genug bekommen und machst es wieder und wieder, bis du doch irgendwann genug hast und zurück ins Licht kriechst und deiner Reue begegnest.
    Ich liebe die nackte Hemmungslosigkeit der dunklen Räume – ich hasse das unvermeidbare Zurückkehren ins grelle Licht der Reue. Es soll Typen geben, denen sind die Konsequenzen ihres sexuellen Treibens scheißegal, für die zählt nur die reine Lust. Zu denen gehöre ich leider nicht, ich komme immer beladen mit Schuldgefühlen zurück in dieses Reich der Wirklichkeit. Ich kann und will auch gar nicht verantwortungslos sein, weil das einfach dumm ist, nur bin ich leider zu feige, meinem Verantwortungsgefühl zu folgen und zu meinen Taten zu stehen. Deshalb verdränge ich und ziehe wieder und wieder los und wiederhole mich in der berauschenden Gefahr, anstatt mich zumindest zu schützen. Deshalb stehe ich jetzt hier an der Westküste Schleswig-Holsteins und warte auf die Fähre, die mich über das kalte kabbelige Wasser trägt, anstatt in Berlin, Samstag hin oder her, eine Arztpraxis oder ambulante Krankenstation aufzusuchen und den Test zu machen. Anstatt zumindest endlich Gewissheit zu erlangen. Denn es ist ja gerade die Ungewissheit, die auf mir lastet, die mir im Weg steht und mich in die Enge treibt, gefangen nimmt. Beseitigte ich sie, würde sich mir sogleich mindestens ein Ausweg eröffnen, davon bin ich überzeugt. Dafür braucht es aber Mut, und mutig bin ich wohl ungefähr so sehr wie mein Vater. Oder wie meine Mutter, der nichts anderes einfiel bei meinem Coming-out, als sich um meinen baldigen Aids-Tod zu sorgen. Den ich natürlich nicht sterben wollte, den ich nicht sterben will, dem ich vermutlich längst in die Falle gegangen bin. Ich …
    Plötzlich krampft sich mein Magen zusammen, der Schmerz geht mir durch Mark und Bein. Diesmal kotze ich wirklich. Ein heißer ätzender bräunlicher Schwall aus Fast-Food-Fraß, Kaffee und Birnen-Rahm-Tarte schießt aus mir heraus und fließt dampfend den Deich hinab, bis er von den schwappenden Wellen aufgesogen und zersetzt wird. Das Würgen will gar kein Ende mehr nehmen, ich knie auf allen vieren im nassen Gras zwischen Schafkütteln, Möwenfedern, Muschelschalen, Seetang, Treibholz und Plastikmüll und kotze und kotze, bis nur noch heiße Luft kommt. Elend und ganz krank sacke ich nach vorn und stütze meine glühende Stirn auf den Unterarmen ab, als betete ich, auf die falsche Weise und in die falsche Richtung, nach Mekka. Ein widerlich winselndes Jaulen dringt mir aus dem wie entzündet schmerzenden Hals.
    Ich will, dass alles wieder gut wird, dass nichts geschehen ist. Ich will eine Dunkelheit, die schützt und nicht verführt, in der ich es mit mir allein aushalte.
    Ein Nebelhorn ertönt, einmal, zweimal, dreimal: Mein Schiff, ich darf es nicht verpassen. Nass bis auf die Haut, an Knien und Ellbogen breiten sich nasse Flecken im Stoff von Jacke und Hose aus, und frierend bis ins Knochengerüst, rapple ich mich auf und will schleunigst zum Fähranleger zurücklaufen. Doch kaum stehe ich, wird mir schwindlig, für einen Moment schwarz vor Augen, ich gerate ins Straucheln und falle beinahe die Rückseite des Deiches hinunter. Ich kann mich gerade noch halten, bleibe stehen, versuche mich zu beruhigen und tief, ganz tief durchzuatmen. Das Schiff wird schon nicht ohne dich abfahren, denke ich, du hast schließlich dafür bezahlt. Dieser Gedanke ist so absurd – was kümmert es das Schiff, ob alle, die für die Passage auf ihm bezahlt haben, dann letztendlich auch an Bord sind? –, dass ich nicht nur auflachen muss, mehr ein Verschlucken an der rauen Luft als alles andere, sondern mir gleich noch etwas auffällt:
    Ich kann gar kein Nebelhorn gehört haben, ich Idiot, das Wetter ist lange nicht trübe genug, als dass ein Nebelhorn nötig wäre. Ich hab mir das nur eingebildet, wahrscheinlich kommt meine Fähre noch gar nicht. Toll, jetzt hab ich schon Halluzies!
    Dann schaue ich aber aufs Meer hinaus, in die Fahrrinne, und sehe den

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