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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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des Schlafs überging. Er konnte nicht mehr böse auf sie sein. Wenn sie nach Hause wollte, würde er sie heimbringen. Er konnte die Sachen noch in der Nacht packen, dann wären sie im Morgengrauen aufbruchbereit. Vorsichtig kroch er aus dem Bett, um sie nicht zu wecken, und begann die Koffer zu packen. Es war gut, etwas Konkretes zu tun zu haben. Er faltete ihre Habseligkeiten zusammen: das Baumwollkleid, die Strümpfe, die Unterwäsche, das schwarze Schwimm-Trikot; er legte ihre Halsketten und Ohrringe in das Satinetui, aus dem sie den Schmuck hervorgeholt hatte. Er schob ihre Ballettschuhe ineinander und faltete ihre Trainingsröcke und Einteiler. Anschließend zog er eine Jacke über und setzte sich allein in den Garten. Im Unkraut neben der Auffahrt sangen die Grillen eine französische Melodie; das Lied, das die Grillen in Konyár zirpten, hatte andere Töne gehabt, einen anderen Rhythmus. Doch die Sterne über ihm waren dieselben. Da waren die ausgestreckte Kassiopeia, der Kleine Wagen und der Drache. Einige Nächte zuvor hatte er sie Klara erklärt; jeden Abend musste er die Namen wiederholen, bis sie sie genauso gut kannte wie er.
    Am nächsten Morgen fuhren sie zurück nach Paris. Im blauen Dämmerlicht hatte Andras ihr geholfen, aufzustehen und sich anzuziehen; sie hatte geweint, als sie sah, dass er schon alles gepackt hatte. »Ich habe dir diesen Urlaub kaputt gemacht«, sagte sie. »Und heute hast du Geburtstag.«
    »Das ist mir egal«, sagte er. »Jetzt geht’s nach Hause. Es ist eine lange Fahrt.«
    Sie wartete im Wagen, während er das Landhaus abschloss und den Schlüssel in das Vogelnest über der Tür zurücklegte. Zum letzten Mal fuhr er die gewundene Straße nach Nizza hinunter; das Meer glitzerte, als die Sonne sich über die paillettenschimmernde Fläche ergoss. Andras hatte keine Angst auf der Straße, nicht nach den Übungsstunden mit Klara. Er fuhr die ganze Strecke nach Paris, sie saß schweigend neben ihm und schaute auf die Felder und Höfe. Als sie das Straßengewirr um die Hauptstadt erreichten, schlief sie tief und fest, und Andras versuchte sich zu erinnern, welchen Weg sie auf der Hinfahrt genommen hatten. Aber die Straßen hatten ihren eigenen Kopf; Andras verlor eine Stunde in den Vororten, bis ihn ein Polizist zur Porte d’Italie schickte. Schließlich fand er die Strecke über die Seine und die vertrauten Boulevards zur Rue de Sévigné. Da war es bereits stockfinster; das Ballettstudio lag im Dunkeln, im Haus brannte kein Licht. Klara erwachte und rieb sich mit den Händen übers Gesicht. Andras half ihr nach oben und packte sie in das Nachthemd, das sie auf dem Bett vergessen hatte. Sie legte sich auf den Rücken, und die Tränen rollten über ihre Schläfen ins Kopfkissen.
    »Was kann ich für dich tun?«, fragte er und setzte sich neben sie. »Was brauchst du?«
    »Ich muss nur allein sein«, sagte sie. »Nur ein bisschen schlafen.«
    Ihre Stimme war sonderbar flach. Diese blasse Frau in dem bestickten Nachthemd war die geisterhafte Schwester der Klara, die er kannte, dieser Frau, die eine Woche zuvor mit Staubmantel und Schutzbrille aus dem Haus gestürmt war. Es war ihm unmöglich, jetzt nach Hause zu gehen. Er wollte Klara nicht in diesem Nebel allein lassen. Deshalb trug er ihr Gepäck aus dem Wagen nach oben und machte ihr eine Tasse Lindenblütentee, den sie immer bei Kopfschmerzen trank. Als er ihr die Tasse brachte und auf dem Nachttisch abstellte, setzte sie sich im Bett auf und streckte eine Hand nach ihm aus. Andras kam ans Bett und setzte sich neben sie. Sie hielt seinen Blick mit den Augen fest; eine zarte Röte hatte sich auf ihre Brust gelegt. Klara lehnte den Kopf an seine Schulter und schlang die Arme um seinen Bauch. Er spürte das Heben und Senken ihrer Brust an der seinen.
    »Was hast du nur für einen schrecklichen Geburtstag gehabt«, sagte sie.
    »Überhaupt nicht«, widersprach er und strich ihr übers Haar. »Ich war ja den ganzen Tag mit dir zusammen.«
    »Unten im Studio steht etwas für dich«, sagte sie. »Ein Geburtstagsgeschenk.«
    »Ich brauche kein Geschenk«, gab er zurück.
    »Trotzdem.«
    »Du kannst es mir ein andermal geben.«
    »Nein«, sagte sie. »Ich will, dass du es jetzt bekommst. Ich gehe mit dir runter.« Sie stieg aus dem Bett und nahm seine Hand. Gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter ins Ballettstudio. An der Wand stand ein mit einem Laken verhüllter Gegenstand von der Größe und Form eines Klaviers.
    »Mein Gott«,

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