Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
hatte den Schleier über sie gelegt. Als der Kellner kam, bestellte Klara Absinth für sie beide, ein Getränk, das sie nur wählte, wenn sie traurig war und der Welt ein wenig entkommen wollte.
Doch auf Andras hatte Absinth nicht dieselbe Wirkung; das Getränk hielt sein Hirn zum Narren. Andras redete sich ein, hier in Nizza, in dieser traumgleichen Hotelbar über dem Meer, sei es anders, doch es dauerte nicht lange, bis der Wermut sein verderbliches Werk begann. Ein Tor schwang auf, und die Paranoia drängte sich hinein. Wenn Klara melancholisch war, dann lag es für Andras nun nicht mehr daran, dass sie das Tanzen hatte aufgeben müssen, sondern dass sie Elisabets Vater verloren hatte. Ihre einzige große Liebe. Das eine große Geheimnis, in das sie Andras nie eingeweiht hatte. Im Vergleich dazu waren ihre Gefühle für Andras nichtig. Selbst ihre elfjährige Beziehung zu Novak hatte den Bann nicht brechen können. Madame Gérard hatte es gewusst; Elisabet wusste es; selbst Tibor hatte es innerhalb von einer Stunde erkannt, während Andras selbst monatelang blind gewesen war. Wie absurd von ihm, sich den Sommer über Sorgen wegen Novak zu machen, wenn die wahre Bedrohung doch dieses Phantom war, der einzige Mann, dem Klaras Herz je gehört hatte. Dass sie in einem meergrünen Kleid und diesen Sandalen hier sitzen und ruhig Absinth trinken konnte, dass sie so tun konnte, als würde sie irgendwann Andras’ Frau, und sich ihm dann entzog, wohin auch immer – zweifellos fortgezogen von ihm, diesem namenlosen, gesichtslosen Mann, den sie geliebt hatte –, Andras hätte sie am liebsten an den Schultern gepackt und geschüttelt, bis sie weinte.
»Gott, Andras«, sagte sie schließlich. »Schau mich nicht so an.«
»Wie denn?«
»Du schaust, als ob du mich umbringen wolltest.«
Ihre klaren grauen Augen. Der schimmernde Seestern in ihrem Haar. Ihre kindsgroßen Hände auf dem Tisch. Andras hatte mehr Angst vor ihr, vor dem, was sie ihm antun konnte, als vor jedem anderen Menschen in seinem Leben. Er schob seinen Stuhl zurück und ging zur Theke, wo er sich ein Päckchen Gauloises kaufte, dann lief er hinunter an den Strand. Es hatte etwas Tröstliches, flache Steine in die Brandung zu schleudern, wo sie hüpften und lautlos verschwanden. Er setzte sich auf die Holzlatten eines Liegestuhls und rauchte drei Zigaretten, eine nach der anderen. Am liebsten hätte er am Strand übernachtet, mit den im Dunkeln heranstampfenden Wellen und den Klängen der Hotelkapelle, die vom offenen Ballsaal herunterwehten. Doch bald schon klarte es in seinem Kopf auf, und ihm wurde bewusst, dass er Klara allein am Tisch hatte sitzen lassen. Das Absinth-Tor schloss sich wieder. Die Paranoia ebbte ab. Andras schaute sich über die Schulter um, und da war der meergrüne Pinselstrich von Klaras Kleid, der im safrangelben Licht des Hotels verschwand.
Er lief den Strand hinauf, um sie noch zu erreichen, doch als er dort ankam, war Klara nicht mehr zu sehen. Der Rezeptionist in der Lobby verneinte, eine Frau in Grün gesehen zu haben; die Portiers hatten sie gehen sehen, doch der eine meinte, sie habe sich von der Stadt entfernt, während der andere der Meinung war, sie sei darauf zugegangen. Der Renault stand noch dort, wo sie ihn zurückgelassen hatten, an der Ecke eines verstaubten Grundstücks. Es war inzwischen stockfinster. Andras glaubte nicht, dass Klara in Richtung Innenstadt laufen würde, nicht in ihrer jetzigen Stimmung. Er stieg in den Wagen und fuhr im Schneckentempo über die Strandpromenade. Er war noch nicht weit gekommen, als der Scheinwerfer etwas am Straßenrand meergrün aufblitzen ließ. Klara ging raschen Schrittes, ihre Sandalen wirbelten Staub auf. Sie hatte die Arme um sich geschlungen; Andras sah die süße vertraute Säule ihrer Wirbel, die aus dem tief ausgeschnittenen Kleiderrücken emporstieg. Er hielt den Wagen an und sprang heraus, um Klara einzuholen. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter und marschierte weiter.
»Klara«, sagte er. »Klárika.«
Endlich blieb sie stehen, die Arme hingen schlaff an ihr herunter. Scheinwerferlicht kam um die Kurve, ergoss sich über ihren Körper, dann jagte ein Sportwagen vorbei und schoss in Richtung Altstadt davon, die Insassen sangen ein lautes Lied in die Nacht. Als der Wagen fort war, gab es nur noch das Tosen und Klatschen der Wellen. Lange Zeit sprach keiner von beiden. Klara wich seinem Blick aus.
»Entschuldigung«, sagte er. »Ich weiß nicht, warum ich
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