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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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weitere Forderungen erhoben worden waren: Hitler wollte mit seinen Truppen das Sudetenland besetzen, er verlangte von der tschechischen Bevölkerung, innerhalb einer Woche ihre Häuser und Höfe zu verlassen, ohne ihre Habe mitzunehmen. Chamberlain kam mit einer neuen Liste von Forderungen nach Hause, die von der französischen wie der britischen Regierung umgehend abgelehnt wurden. Eine militärische Besetzung sei undenkbar, das käme einer kampflosen Kapitulation der restlichen Tschechoslowakei gleich.
    Es ist so weit: die gefürchtete Mobilmachung , hatte Andras an Tibor geschrieben. Die tschechische Armee rückt aus, und unser Premier Daladier hat eine Teilmobilmachung der französischen Truppen angeordnet. Andras hatte es am Morgen beobachten können: In der ganzen Stadt hatten Reservisten ihre Geschäfte, ihre Taxis und Kaffeetische verlassen und waren zu Orten außerhalb von Paris aufgebrochen, wo sich die Bataillone sammelten. Als er seinen Brief an Tibor einwerfen ging, herrschte Gedränge vor dem Briefkasten; jeder Soldat schien noch eine Nachricht versenden zu wollen, bevor es losging. Jetzt, drei Tage später, saß Andras auf seinem Bett, die Tasche mit dem Tallit in der Hand, wartete auf Polaner und dachte an seine Eltern und seine Brüder, an Klara und die Gefahr eines Krieges. Um halb sieben kam sein Freund; sie nahmen die Métro bis zu Le Peletier im Neunten und gingen die zwei Häuserblocks zur Synagogue de la Victoire.
    Diese Synagoge war völlig anders als der reich verzierte Tempel im byzantinisch-maurischen Stil auf der Dohány utca, den Andras und Tibor in Budapest an den hohen Feiertagen besucht hatten. Ebenso wenig glich sie der kleinen Schul in Konyár mit ihrer dunklen Deckenverkleidung und der Holzwand, die den Männerbereich von dem der Frauen abtrennte. Die Synagogue de la Victoire war ein hochaufstrebendes romanisches Bauwerk aus blassgoldenem Stein mit einer eindrucksvollen Fensterrosette in der geschwungenen Fassade. Innen streckten sich schlanke Säulen bis zum Tonnengewölbe unter der Decke: Ein hohes Fenstergeschoss flutete den Raum mit Licht. Über der byzantinisch verzierten bimah flehte eine Inschrift: TU AIMERAS L’ETERNEL TON DIEU DE TOUT TON CŒUR . Als Andras und Polaner eintrafen, hatte der Gottesdienst bereits begonnen. Sie nahmen in einer Bank weit hinten Platz und knöpften ihre samtenen Tallit-Taschen auf: Polaners Gebetsschal war aus vergilbter Seide mit blauen Streifen, der von Andras aus fein gesponnener weißer Wolle. Gemeinsam sprachen sie das Gebet zum Anlegen des Gebetsschals; gemeinsam breiteten sie ihn über ihre Schultern. Der Kantor sang auf Hebräisch: Siehe, wie schön und lieblich ist’s, wenn Brüder zusammenwohnen. Immer und immer wieder die vertraute Melodie: die erste Zeile tief und düster wie ein Arbeitsgesang, die zweite stieg empor zur gewölbten Decke wie eine Frage: Ist es nicht schön, wenn Brüder zusammenwohnen? Polaner hatte die Melodie in Krakau gelernt. Andras kannte sie aus Konyár. Dem Kantor hatte sie sein Großvater in Minsk beigebracht. Die drei alten Männer neben Polaner hatten sie erstmals in Gdynia, Amsterdam und Prag gehört. Sie kam von überall her. Sie war den Pogromen in Odessa und Oradea entflohen, hatte ihren Weg in diese Synagoge gefunden, würde ihren Weg auch in andere finden, die noch gar nicht gebaut waren.
    Auf Andras, der in den vergangenen vier Wochen eine Mauer um den Teil von sich gebaut hatte, der Klara Morgenstern betraf, hatte diese Melodie die Wirkung eines Erdbebens. Es begann als leichtes Zittern, gerade stark genug, um die Mauer schwanken zu lassen – ja, es war gut, wenn Brüder zusammenwohnten, aber es war Monate her, Monate, seit er seine eigenen Brüder gesehen hatte –, und dann durchfuhr ihn ein Blitz unerträglichen Heimwehs nach Konyár, dann ein zweiter Stich von Sehnsucht nach der Rue de Sévigné und dem tieferen, innigeren Heim, das Klara selbst für ihn war. In den vergangenen vier Wochen hatte Andras sich auf die internationalen Nachrichten gestürzt und seine Gedanken von Klara ferngehalten; spätnachts, wenn er sich nicht mehr vormachen konnte, er habe die Sache im Griff, redete er sich ein, ihr Schweigen allein müsse noch nicht bedeuten, dass alles vorbei sei. Sie hatte sich zwar nicht bei ihm gemeldet, hatte seine Briefe aber auch nicht zurückgeschickt oder verlangt, dass er die Dinge zurückbrachte, die sie in seiner Wohnung aufbewahrte. Sie hatte ihm keinen Grund gegeben, die

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