Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Großen Krieg zu Österreich-Ungarn gehörte. Darauf hatte Andras geantwortet, dass die ungarische Regierung höchstwahrscheinlich in Hitlers Pläne einbezogen sei, da Ungarn seine eigenen verlorenen Gebiete zurückerhalten würde, wenn Deutschland sich das Sudetenland nähme; das Wort Rückkehr wäre ein Anreiz für all jene, die das Gefühl hatten, ihr Land sei in Versailles übers Ohr gehauen worden. Aber wenigstens hast Du in der Schule gut aufgepasst , schrieb er. Vielleicht machst Du ja doch noch Dein Abitur.
Die Pariser Zeitungen ließen im Laufe der Entwicklung immer mehr durchblicken: Am zwölften September stieß Hitler bei seiner Abschlussrede auf dem Reichsparteitag in Nürnberg mit der Faust in die Luft und forderte Gerechtigkeit für die Millionen Volksdeutschen im Sudetenland; er werde auf keinen Fall tatenlos zusehen, wie sie vom tschechischen Präsidenten Beneš und seiner Regierung unterdrückt würden. Einige Tage später flog Chamberlain, der noch nie zuvor einen Fuß in ein Flugzeug gesetzt hatte, zu Hitlers Bergfestung in Berchtesgaden, um mit ihm über die sogenannte Sudetenkrise zu sprechen.
»Er hätte nicht hinfliegen dürfen«, sagte Polaner bei einem Glas Whisky im La Colombe Bleue. »Das ist eine Demütigung, verstehst du nicht? Dieser alte Mann, der noch nie in einem Flugzeug gesessen hat, wird zu einem Treffen mit dem Führer in die entlegenste Ecke Deutschlands gezwungen. Das ist eine Machtdemonstration Hitlers. Dass Chamberlain sich darauf eingelassen hat, verrät nur, wie viel Angst er hat. Ich verspreche dir, Hitler wird seinen Vorteil erkennen und nutzen.«
»Wenn irgendjemand hier seine Macht demonstriert, dann Chamberlain«, sagte Andras. »Er ist nach Berchtesgaden geflogen, weil er eines klarstellen will: Wenn Hitler die Tschechoslowakei angreift, werden Großbritannien und Frankreich alles daransetzen, ihn zu Fall zu bringen. Darum geht es.«
Doch bald stellte sich heraus, dass Andras unrecht hatte. Die Zeitungen berichteten, Chamberlain habe bei dem Treffen einen Forderungskatalog von Hitler bekommen und wolle jetzt seine eigene Regierung und die Frankreichs überzeugen, die Bedingungen des Führers kurzfristig zu akzeptieren. Die französischen Leitartikel argumentierten für ein Opfern des Sudetenlandes, wenn dadurch der Frieden bewahrt werden könne, der zu solch entsetzlichen Kosten im Großen Krieg errungen worden sei; andere, kritische Töne wurden nur von wenigen kommunistischen und sozialistischen Kommentatoren angeschlagen. Ein paar Tage später trugen Gesandte der französischen und britischen Regierung Präsident Beneš den Vorschlag vor, die Grenzgebiete abzutreten, und forderten die tschechische Regierung auf, den Plan unverzüglich in die Tat umzusetzen. Den ganzen Tag wühlte sich Andras durch Zeitungen und lauschte dem roten Bakelitradio in Forestiers Bühnenbildnerwerkstatt, als ob seine unermüdliche Aufmerksamkeit das Geschehen in eine andere Richtung lenken könne. Selbst Forestier legte sein Werkzeug beiseite und grübelte mit Andras über den Nachrichten. Als Reaktion auf den englisch-französischen Vorschlag hatte Präsident Beneš ein maßvolles, lehrerhaftes Memorandum vorgelegt, in dem er Frankreich an seinen Eid erinnerte, die Tschechoslowakei bei einer eventuellen Bedrohung zu unterstützen; wenige Stunden nach Übermittlung der diplomatischen Note holten der britische und der französische Außenminister Beneš in Prag aus dem Bett und bestanden darauf, dass er ihren Vorschlag auf der Stelle akzeptierte. Sonst würde er Deutschland ganz allein gegenüberstehen. Am nächsten Tag lauschten Andras und Monsieur Forestier mit ungläubiger Bestürzung dem Radiosprecher, der verkündete, Beneš habe den englisch-französischen Plan akzeptiert. Das gesamte tschechische Kabinett sei gerade aus Protest zurückgetreten. Chamberlain würde sich am 22. September erneut mit Hitler treffen, diesmal in Bad Godesberg, um die Abtretung des Sudetenlandes zu besprechen.
»Das war es dann«, sagte Forestier und zog die breiten Schultern ein. »Die letzte Demokratie Mitteleuropas fällt auf Drängen von Großbritannien und Frankreich vor Hitler auf die Knie. Es sind schreckliche Zeiten, mein junger Herr Lévi, schreckliche Zeiten.«
Andras war davon ausgegangen, dass damit die Krise vorbei und ein Krieg abgewendet sei, wenn auch zu einem enormen Preis. Doch als er am 23. September bei Forestier eintraf, erzählte der ihm, dass auf der Konferenz in Bad Godesberg
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