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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Hoffnung gänzlich fahren zu lassen. Doch da nun die Pariser Bevölkerung aus Furcht vor einer möglichen Bombardierung aufs Land floh, da die abstrakte Möglichkeit eines Krieges real und fassbar wurde, wie sollte er ihr fortdauerndes Schweigen da verstehen? Würde sie Paris verlassen, ohne ihm Bescheid zu geben? Würde sie unter dem Schutz von Zoltán Novak in einem von ihm geschickten Privatwagen davonfahren? Packte sie in ebendiesem Moment denselben Koffer, den Andras einige Wochen zuvor für sie ausgepackt hatte?
    Er zog seinen Gebetsschal enger um sich und versuchte, seine Gedanken zur Ruhe zu bringen; das Wiederholen der Gebete hatte etwas Entspannendes, die Anwesenheit von Polaner und der anderen Männer und Frauen, die den Text auswendig kannten, etwas Tröstliches für ihn. Andras sprach das Gebet, das die Sünden des Hauses Israel aufführte, dann das andere, in dem er den Herrn bat, seine Zunge vor Bösem und seine Lippen vor Trug zu bewahren. Er sprach das Dankgebet für die Thora und hörte zu, als die Worte aus den weiß eingefassten Rollen gesungen wurden. Am Ende des Gottesdienstes flehte er, in das Buch des Lebens geschrieben zu werden, als ob in so einem Buch noch Platz für ihn wäre.
    Anschließend spazierte er mit Polaner über den Fluss zur Studentenkantine, die den Sommer über leer gewesen war und sich erst wieder gefüllt hatte, als der Beginn der Vorlesungszeit näher rückte. An diesem Tag jedoch waren kaum Studenten dort; der drohende Krieg hatte den Alltag durcheinandergebracht. Der Servierer lud Andras Brot, Rindfleisch und harte, ölige Kartoffeln auf den Teller.
    »Zu Hause würde meine Mutter jetzt Rinderbrust und Nudelsuppe machen«, sagte Polaner, als sie ihre Teller an den Tisch trugen. »Kartoffeln wie die hier hätten ihre Küche nie von innen gesehen.«
    »Das kannst du den Kartoffeln nicht vorwerfen«, sagte Andras. »Es ist kaum deren Schuld.«
    »Es fängt immer mit den Kartoffeln an«, sagte Polaner und hob bedeutungsvoll die Augenbraue.
    Andras musste lachen. Es war ein Wunder, dass Polaner nach den Geschehnissen im Januar ihm jetzt am Tisch gegenübersaß. Auch wenn auf der Welt vieles im Argen lag, war nicht zu leugnen, dass Eli Polaner sich von seinen Verletzungen erholt hatte und mutig genug gewesen war, zum zweiten Jahr an die École Spéciale zurückzukehren.
    »Für deine Mutter muss es furchtbar gewesen sein, dich aus Krakau fortzulassen«, sagte Andras.
    Polaner faltete seine Serviette auseinander und legte sie sich auf den Schoß. »Es fällt ihr immer schwer, sich von mir zu verabschieden«, sagte er. »Sie ist meine Mutter.«
    Andras schaute ihn aufmerksam an. »Du hast deinen Eltern nie erzählt, was passiert ist, oder?«
    »Dachtest du, ich würde das tun?«
    »Keine Ahnung. Schließlich warst du fast tot.«
    »Sie hätten mich nie weiterstudieren lassen«, sagte Polaner. »Sie hätten mich zur Gesprächstherapie in irgendein Freud’sches Sanatorium verfrachtet, und du würdest heute Abend allein hier sitzen, copain .«
    »Dann habe ich ja Glück, dass du nichts erzählt hast«, sagte Andras. Seine Freunde hatten ihm gefehlt, insbesondere Polaner. Er war davon ausgegangen, dass sie längst wieder alle zusammen in dieser Kantine essen würden, dass sie bald wieder gemeinsam im Atelier arbeiten, sich nach dem Unterricht im La Colombe Bleue treffen würden, um schwarzen Tee zu trinken und Mandelplätzchen zu essen. Er hatte sich vorgestellt, wie er Klara von den Heldentaten seiner Freunde berichtete, sie zum Lachen brachte, wenn er mit ihr in der Rue de Sévigné am Kamin saß. Aber Rosen und Ben Yakov waren nach wie vor zu Hause bei ihren Familien, da die École Spéciale den Unterrichtsbeginn verschoben hatte, so wie alle Schulen in Paris. Und mit Klara hatte er gar keinen Kontakt.
    Während der Tage der Ehrfurcht zwischen Rosch ha-Schana und Jom Kippur redete Andras sich ein, er würde bestimmt bald von ihr hören. Ein Krieg schien unvermeidlich. Nachts wurde die Verdunkelung geübt; über die wenigen Ecklaternen, die noch brannten, wurden schwarze Papierkapuzen gestülpt, damit sie ihr Licht nur nach unten warfen. Abreisende Familien verstopften die Züge und ließen auf der Straße eine Kakophonie von Autohupen erklingen. Fünfhunderttausend weitere Männer wurden zu den Waffen gerufen. Wer in Paris blieb, deckte sich mit Gasmasken, Konserven und Mehl ein. Von Andras’ Eltern kam ein Telegramm: BEI KRIEGSERKLÄRUNG NIMM ERSTEN ZUG HEIM . Mit der Nachricht

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