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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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in der Hand saß er auf seinem Bett und fragte sich, ob nun alles zu Ende sei: sein Studium, sein Leben in Paris, alles. Es war der 28. September, drei Tage vor Hitlers angedrohter Besetzung des Sudetenlands. In den nächsten zweiundsiebzig Stunden konnte sein Leben auseinanderbrechen. Es war unmöglich, noch länger zu warten. Er würde jetzt sofort zur Rue de Sévigné gehen und Klara zu sprechen verlangen; er würde darauf bestehen, sie und Elisabet aus der Stadt zu begleiten, sobald sie ihre Koffer gepackt hätten. Bevor er den Mut verlor, warf er sich eine Jacke über und lief den ganzen Weg zu ihrem Haus.
    Doch als er die Tür erreichte, wurde sie ihm von Frau Apfel versperrt. Madame Morgenstern wolle niemanden sehen, erklärte sie. Nicht einmal ihn. Nein, sie habe keine Pläne, die Stadt zu verlassen, soweit Frau Apfel wisse. Im Moment liege sie mit Kopfschmerzen im Bett und hätte ausdrücklich darum gebeten, nicht gestört zu werden. Ob Andras denn nichts davon gehört habe? Am nächsten Tag solle es noch ein Treffen in München geben, einen letzten Versuch, den Frieden zu retten. Frau Apfel war überzeugt, dass diese Wahnsinnigen zur Vernunft kommen würden. Andras würde schon sehen, sagte sie; es würde doch keinen Krieg geben.
    Andras hatte nichts gehört. Er lief zu Forestier und klebte an den nächsten beiden Tagen mit dem Ohr am Radioempfänger. Am 30. September wurde verkündet, dass Hitler ein Abkommen mit Frankreich, Großbritannien und Italien geschlossen hatte: Innerhalb von zehn Tagen würde Deutschland das Sudetenland bekommen. Es würde doch besetzt werden. Die Angehörigen der tschechischen Bevölkerung würden ihre Heime, ihre Geschäfte und Höfe aufgeben müssen, dürften kein einziges Möbelstück, keinen einzigen Ballen Stoff, keine Getreideähre mitnehmen, und es würde keine Wiedergutmachung oder Entschädigung für die zurückgelassenen Güter geben. In den Regionen mit polnischen und ungarischen Minderheiten würden durch Volksabstimmungen neue Grenzverläufe festgesetzt; Polen und Ungarn würden die verlorenen Gebiete wahrscheinlich für sich beanspruchen. Der Radioansager verlas das Abkommen in einem hastigen, körnigen Französisch, und Andras hatte Mühe, den Sinn zu verstehen. Wie war es möglich, dass Großbritannien und Frankreich einem Vorschlag zugestimmt hatten, der fast identisch mit dem war, den sie noch einige Tage zuvor kategorisch abgelehnt hatten? Der Radiosender übertrug den Lärm der Feiernden aus London; Andras konnte den Jubel gut vor Forestiers Werkstatt hören, wo Hunderte von Parisern den Frieden feierten, Daladier ehrten, Chamberlain lobten. Die zu den Waffen gerufenen Männer konnten heimkehren. Das war ein unbestreitbarer Gewinn – so viele waren ein weiteres Jahr ins Buch des Lebens geschrieben. Warum nur war Andras dann so beklommen zumute wie Forestier, der mit den Ellenbogen auf den Knien in der Ecke hockte und den Kopf in den Händen barg? Die jüngsten Ereignisse waren ein Ausweis der Schmach. Andras fühlte sich so, wie er sich wohl nach dem Überfall auf Polaner gefühlt hätte, wenn Professor Perret den Frieden an der École Spéciale durch den Verweis des Opfers zu retten versucht hätte.
    Am Vorabend von Jom Kippur gingen Andras und Polaner in die Synagogue de la Victoire, um Kol Nidre zu hören. In der feierlichen Zeremonie beteten der Kantor und der Rabbiner mit stirntiefen Kniefällen um rachmones für die Gemeinde und das Haus Israel. Sie verkündeten, die Versammelten seien von den Schwüren entbunden, die sie Gott und einander in diesem Jahr gegeben hätten. Sie dankten dem Allmächtigen, dass Europa den Frieden bewahrt habe. Andras sprach seinen Dank mit einem schleichenden Gefühl der Furcht; im Verlauf des Gottesdienstes suchte sich sein Elend einen anderen Kanal. Unter der Woche war der drohende Krieg wieder einmal eine wirksame Ablenkung von Klara gewesen. Eine Zeit lang hatte er sich selbst vorgegaukelt, dass der Monat des Schweigens ein stilles Versprechen in sich trage, einen Fingerzeig, dass Klara noch immer mit dem Problem rang, das sie frühzeitig von Nizza nach Hause geführt hatte. Doch jetzt konnte er sich nicht länger etwas vormachen. Sie wollte ihn nicht sehen. Es war aus mit ihnen, das lag auf der Hand. Ihr Schweigen konnte nicht mehr anders gedeutet werden.
    An jenem Abend ging er nach Hause und packte Klaras Sachen in eine Holzkiste: ihren Kamm und ihre Bürste, zwei Hemdchen, einen einzelnen Ohrring in Form einer

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