Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Narzisse, einen gläsernen grünen Pillenbehälter, ein Buch mit ungarischen Kurzgeschichten, einen Band mit französischer Lyrik aus dem 16. Jahrhundert, aus dem sie ihm immer gerne vorgelesen hatte. Kurz verweilte er bei dem Büchlein; er hatte es ihr gekauft, weil es das Gedicht von Marot über das Feuer enthielt, das im Schnee verborgen war. Andras schlug die entsprechende Seite auf. Vorsichtig schnitt er das Blatt mit dem Taschenmesser heraus und legte es in den Umschlag mit Klaras Briefen. Die behielt er; er konnte sich nicht von ihnen trennen. Dann schrieb er eine Nachricht für Klara auf eine Postkarte, die er vor Monaten als Andenken gekauft hatte: eine Fotografie des Square Barye, des kleinen Parks an der Ostspitze der Île Saint-Louis, wo er ihr das Marot-Gedicht am Neujahrstag ins Ohr geflüstert hatte. Liebe Klara , schrieb er, hier sind ein paar Dinge, die noch bei mir waren. Meine Gefühle für Dich sind unverändert, aber ich kann nicht länger warten, ohne den Grund für Dein Schweigen zu kennen und ohne zu wissen, ob es je gebrochen wird. Deshalb muss ich selbst den Bruch vollziehen. Ich entbinde Dich von Deinen mir gegebenen Versprechen. Du musst mir nicht mehr treu sein und Dich nicht benehmen, als würdest Du irgendwann meine Frau werden. Ich habe Dich entbunden, aber mich selbst kann ich nicht von dem entbinden, was ich Dir geschworen habe, das musst Du tun, Klara, wenn Du es denn willst. Solltest Du bis dahin wieder zu mir kommen wollen, wirst Du sehen, dass ich bis heute, wie immer, Dein bin. Andras.
Er nagelte die Holzkiste zu und hob sie an. Sie wog fast nichts, diese letzte Spur von Klara in seinem Leben. Im Dunkeln ging er zum letzten Mal zu ihrem Haus und stellte die Kiste auf die Türschwelle, wo Klara sie am Morgen finden würde.
Am nächsten Tag begann er zu fasten. Beim Frühgottesdienst war er überzeugt, einen furchtbaren Fehler begangen zu haben. Wenn er noch eine Woche gewartet hätte, dachte er, wäre sie vielleicht zu ihm zurückgekommen; jetzt hatte er sein eigenes Unglück besiegelt. Am liebsten wäre er von der Synagoge zur Rue de Sévigné gelaufen und hätte die Kiste geholt, ehe sie jemand entdeckte. Doch als das Fasten allmählich seine reinigende Wirkung entfaltete, kam er zu der Überzeugung, das Richtige getan zu haben, getan zu haben, was er tun musste, um sich selbst zu retten. Er zog seinen Gebetsschal enger um die Schultern und vertiefte sich in die Wiederholungen des Achtzehngebets. Die vertrauten Worte vergrößerten seine Gewissheit. Die Natur hatte ihren Kreislauf; alles hatte seine Zeit, und alles war vergänglich.
Beim Abendgottesdienst war er ausgetrocknet, taub und benommen vom Fasten. Er wusste, dass er auf einen Abgrund zusteuerte und keine Kraft hatte, sich aufzuhalten. Schließlich endete der Gottesdienst mit dem durchdringenden Klang des Schofars. Polaner und Andras waren zum Essen in die Rue Saint-Jacques bestellt; József hatte sie zum Fastenbrechen mit seinen Freunden von der Beaux-Arts eingeladen. Schweigend überquerten sie den Fluss, versunken in die letzte Phase ihres Hungers. Bei József gab es Musik und einen großen Tisch, der vor Alkohol und Speisen überquoll. Er wünschte ihnen ein frohes neues Jahr und drückte jedem ein Glas Wein in die Hand. Dann nahm er Andras mit einem vertraulichen Fingerwink beiseite und neigte ihm den Kopf zu.
»Ich habe etwas äußerst Bemerkenswertes über dich gehört«, sagte er. »Mein Freund Paul erzählte mir, du seist mit der Mutter dieses großen Mädchens liiert, seiner aufmüpfigen Elisabet.«
Andras schüttelte den Kopf. »Nicht mehr«, sagte er. Dann nahm er eine Flasche Whisky vom Tisch und schloss sich im Schlafzimmer ein, wo er sich besinnungslos betrank, sich selbst im Spiegel verfluchte, über das Balkongeländer lehnte und Fußgänger beschimpfte, sich in den Kamin erbrach und schließlich ohnmächtig zu Boden sank.
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18.
Café Bédouin
DAS JUDENTUM KANNTE KEINE SCHIWA für verlorene Liebe. Es gab kein Kaddisch zu sprechen, keine Kerze anzuzünden, kein Verbot des Rasierens, des Musikhörens oder Arbeitens. Andras konnte nicht in zerrissener Kleidung herumlaufen, konnte nicht tagelang mit Asche im Gesicht dasitzen. Ebenso wenig konnte er sich weltlicheren Methoden des Trostes zuwenden; er konnte es sich einfach nicht leisten, jeden Abend bis zur Besinnungslosigkeit zu saufen oder einen Nervenzusammenbruch zu erleiden. Nachdem er sich von Józsefs Parkettboden aufgerappelt
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