Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
flüsterte sie. »Wir hätten gar nicht herkommen sollen. Ich hätte wissen müssen, dass Marcelle irgendein furchtbares Drama inszenieren würde.«
Nur zu gerne ging Andras mit. Sie holten ihre Mäntel aus einem roten Schlafzimmer und schlüpften in den Flur. Aber Novak musste Klaras Abwesenheit bemerkt und dann den nach unten fahrenden Aufzug gehört haben; vielleicht war er auch einfach nur zu dem Schluss gekommen, dass er die Hitze im Zimmer nicht länger ertragen konnte. Als die beiden unten auf dem Bürgersteig erschienen, stand er oben auf dem Balkon und rief nach Klara, die Arm in Arm mit Andras die Straße hinunterging. Andras, weit entfernt von jeglichem Triumphgefühl, war übel vor Mitleid. Es konnte jederzeit passieren, dass er selbst derjenige war, der Klara für immer zurückließ, der allein nach Ungarn zurückgeschickt wurde. Diese Einsicht war so übermächtig, dass er sich auf eine Bank setzen musste und den Kopf auf die Knie senkte. Sie trat neben ihn, legte ihre behandschuhten Finger auf seiner Schulter. Eine scheinbar endlos lange Zeit verging so, und keiner von beiden sagte ein Wort.
[Menü]
22.
Signorina di Sabato
AN EINEM TAG MIT MESSERSCHARFEM Dezemberwind organisierte die Ligue Internationale Contre l’Antisémitisme eine Protestkundgebung anlässlich des Besuchs des deutschen Außenministers in Paris. Andras, Polaner, Rosen und Ben Yakov standen in einer dichten Demonstrantengruppe vor dem Élyséepalast und skandierten Sprüche gegen die französische und die deutsche Regierung, sie schwenkten Plakate – Kein schulterschluss mit Faschisten! Von Ribbentrop zurück nach berlin ! – und sangen die zionistischen Lieder, die sie bei früheren Treffen der Ligue gelernt hatten; nach den Pogromen in Deutschland hatte Rosen darauf bestanden, dass jeder von ihnen daran teilnahm. Am Morgen hatte er sie bei Sonnenaufgang geweckt, um die Plakate zu malen. Es könne keine Ausrede mehr fürs Nichtstun geben, sagte er, als er sie aus den Betten scheuchte, keine Entschuldigung fürs Herumliegen, während Joachim von Ribbentrop die Unterzeichnung einer deutsch-französischen Erklärung vorbereitete, welche die Wichtigkeit einer freundschaftlichen Beziehung beider Länder betonte; Bonnet, der französische Außenminister, der auf Hitlers Annexion des Sudetenlands so verständnisvoll reagiert hatte, zeige sich offen und kooperativ. Bei Rosen tranken sie eine Kanne türkischen Kaffee und malten ein Dutzend Plakate. Rosen rührte die Farbe mit einem Lineal um und forderte alle auf, die Dämpfe der Revolution einzuatmen. Andras wusste, dass Rosens großspuriges Auftreten größtenteils seiner neuen copine galt, einer zionistischen Krankenschwester, die er im Sommer kennengelernt hatte. Sie hieß Shalhevet und unterstützte sie an jenem Morgen beim Plakatemalen. Shalhevet war groß und glutäugig und hatte eine herzzerreißende weiße Locke in ihrem schwarzen Haar; ihr gelegentliches Augenzwinkern in Richtung von Andras, Polaner und Ben Yakov ließ ahnen, dass sie wusste, wie stark Rosen übertreiben konnte, doch gleichzeitig betrachtete sie ihn mit einer Bewunderung, die ihre tieferen Gefühle verriet.
Obwohl Andras sich beschwert hatte, so früh aus dem Bett gezerrt zu werden, war er doch froh darüber, etwas Wesentlicheres zu tun als lediglich die Zeitung zu lesen und ihren Inhalt zu beklagen. Als er vor dem Élyséepalast stand und sein Plakat hochhielt, dachte er an den jungen Grynszpan im Gefängnis von Fresnes – was der junge Mann in diesem Moment wohl fühlte und ob er wusste, dass Frankreich an diesem Tag den deutschen Außenminister empfing. Gegen zwölf fuhr von Ribbentrops schwarze Limousine vor und wurde schnell durch die Palasttore gewinkt. Während die Polizei misstrauisch die Barrikaden um den Palast bewachte, wurde der Freundschaftsvertrag unterzeichnet. Nichts, was die Protestierenden hätten tun können, hätte das verhindert, doch wenigstens hatten sie ihren Gefühlen Ausdruck gegeben. Nachdem der Außenminister wieder abgefahren war, marschierte die Ligue singend und Sprechchöre skandierend bis zum Fluss hinunter. Am Quai des Tuileries spalteten sich Andras und seine Freunde ab, um den Nachmittag im La Colombe Bleue ausklingen zu lassen, wo nicht von Politik, sondern von ihrem zweiten Lieblingsthema die Rede war. Ben Yakov stand vor einem gewaltigen Problem: Trotz all seiner Bemühungen war es ihm lediglich gelungen, zwei Drittel des Geldes zu sparen, das notwendig war, um
Weitere Kostenlose Bücher