Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
sie bereit ist, ihre Familie seinetwillen zurückzulassen.«
»Willensstark, allerdings«, bestätigte Andras. »Und verliebt. So wie er es schildert, wünscht sie sich nichts sehnlicher als herzukommen. Und er will es auch.«
»Glaubst du, er kann sie glücklich machen?«
Andras schaute ins Feuer, in die zwischen den Kohlen flimmernde Hitze. »Er wird sein Bestes tun. Er ist ein guter Mann.«
»Ich hoffe, das tut er«, sagte Klara. »Ich hoffe, das ist er.«
Am Abend von Tibor und Ilanas Ankunft gingen alle zum Bahnhof, um die beiden willkommen zu heißen. Sie standen im Pulk auf dem Bahnsteig, Klara und Andras mit Polaner, Rosen und Shalhevet, während Ben Yakov in einiger Entfernung auf und ab schritt; mit einer Hand umklammerte er ein Sträußchen Stiefmütterchen für Signorina di Sabato. Stiefmütterchen im Winter waren ein unglaublicher Luxus, doch er hatte sie unbedingt kaufen wollen. Es waren die Blumen, die er ihr bei ihrem ersten Stelldichein geschenkt hatte.
Shalhevet entdeckte den Zug als Erste, jenen zunächst nur ganz schwachen Lichtpunkt auf den Gleisen. Sie vernahmen den kehligen Altklang der Pfeife; die kleine Gruppe drängte mit den übrigen Parisern voran, die ihre Feriengäste abholen wollten. Der Zug fuhr ein, hüllte sich in einen Rock aus Qualm, und als er zum Stillstand kam, schob sich die wartende Menge noch näher heran. Nach unerträglich langer Zeit öffneten sich die Türen mit einem metallischen Klappern, und die goldbetressten Schaffner sprangen auf den Bahnsteig. Alle machten einen halben Schritt nach hinten und warteten.
Tibor war als einer der Ersten zu sehen. Andras entdeckte ihn in der Tür eines Dritte-Klasse-Wagens, sein Gesicht war aufgeregt und erschöpft; er hatte eine blassgrüne Hutschachtel und einen schicken Damenschirm in der Hand. Dann trat er zur Seite und machte Platz für ein junges Mädchen mit einem langen dunklen Zopf, das auf der obersten Stufe innehielt, um einen suchenden Blick in die Menge zu werfen.
»Da ist sie!«, rief Ben Yakov den anderen über die Schulter zu. »Das ist Ilana!« Er rief ihren Namen und wedelte mit den Stiefmütterchen. Und das Mädchen lächelte so umwerfend bang, dass Andras sich fast selbst in es verliebt hätte. Ilana kam die Stufen herunter und ging über den Bahnsteig auf Ben Yakov zu, hielt inne und stieß, kurz bevor sie ihn erreichte, einen Wortschwall in schnellem, eindringlichem Italienisch aus und zeigte auf den Zug. Andras fragte sich, wieso Ben Yakov sie nicht umarmte; kurz sorgte er sich, dann fiel ihm wieder ein, dass ihr Glaube es ihr verbot. Ben Yakov würde sie erst berühren dürfen, wenn er ihr bei der Hochzeit den Ring an den Finger steckte. Doch sie hob die Augen zu ihm mit einem Blick, der inniger war als eine Umarmung, und er reichte ihr die Stiefmütterchen, und sie schenkte ihm noch einmal dieses Lächeln.
Tibor hatte den Bahnsteig hinter Signorina di Sabato überquert; er stellte die Hutschachtel neben ihr ab und lehnte den Schirm dagegen. Sie sagte einige Worte in dankbarem Ton zu ihm, und er antwortete leise, aber wich ihrem Blick aus. Dann legte er den Arm um Andras, beugte sich zu seinem Ohr herunter und sagte: »Glückwunsch, kleiner Bruder!«
»Du musst Ben Yakov gratulieren«, sagte Andras. »Er ist der Bräutigam.«
»Jetzt ja«, sagte Tibor. »Aber du bist der Nächste. Wo ist deine Braut?« Er ging zu Klara, küsste sie auf beide Wangen und umarmte sie. »Ich habe nie eine Schwester gehabt«, sagte er. »Du musst mir zeigen, wie ich dir ein richtiger Bruder sein kann.«
»Der Anfang ist schon mal gut«, gab Klara zurück. »Schließlich bist du hergekommen, die weite Strecke von Modena.«
»Ich werde heute Abend leider keine gute Gesellschaft abgeben«, sagte Tibor. Er legte Andras die Hand auf den Ärmel. »Ich habe ziemlich starke Kopfschmerzen. Ich glaube, im Moment kann ich nicht so richtig feiern.« Tatsächlich wirkte er völlig erschöpft; er nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen, ehe er die anderen begrüßte. Er gab Ben Yakov die Hand, schlug Polaner anerkennend auf die Schulter und sagte zu Rosen, was für eine Freude es für ihn sei, ihn in so reizender Begleitung zu sehen. Dann nahm er Andras beiseite.
»Bring mich ins Bett«, sagte er. »Ich bin kaputt. Ich glaube, ich werde krank.«
»Kein Problem«, sagte Andras. »Wir holen dein Gepäck und gehen los.« Er hatte vorgehabt, Signorina di Sabato zu Klara zu begleiten, um zu sehen, ob sie sich angenehm untergebracht
Weitere Kostenlose Bücher