Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
verstehen, was er dachte, und in ihrem Gesichtsausdruck lag so viel Gewissheit und Verheißung, dass er Ben Yakov sein Glück nicht übel nehmen konnte.
Nach der Hochzeit blieben nur noch drei Tage von Tibors Urlaub. Seine Stimmung schien sich etwas aufgehellt zu haben; er begleitete Andras zu Schule und Arbeit und verdiente sich aller Bewunderung, wohin er auch ging. Monsieur Forestier schenkte ihm Karten für die Aufführungen, deren Bühnenbilder er entworfen hatte, darunter die Antigone von Madame Gérard, ein Stück, das Tibor in jeder Hinsicht bewundernswert fand, mit Ausnahme der Leistung seiner Hauptdarstellerin. Georges Lemain aus dem Architekturbüro war begeistert von Tibors Fähigkeit, jede Oper lediglich anhand weniger gesummter Takte zu erkennen; er lud die Brüder zu einer Matinee von La Traviata ein, danach besichtigten sie die Baustelle eines maison particulier im 17. Arrondissement, ein Haus, das Lemain für einen Nobelpreisträger der Chemie und dessen Familie entworfen hatte. Er zeigte Tibor das nach Norden gehende Labor, die Bibliothek mit ihren Ebenholzregalen, die hohen Schlafzimmer mit Blick auf den Landschaftsgarten. Tibor lobte alles in seinem ehrlichen Französisch, und Lemain versprach, ein ähnliches Haus für ihn zu bauen, wenn er ein berühmter Arzt sei. Während Andras und Tibor in jenen drei Tagen von einem Ort zum nächsten gingen, von einem Termin zum nächsten wechselten, wartete Andras auf eine Gelegenheit, Tibor nach Signorina di Sabato zu fragen, fand jedoch nie den richtigen Moment, um das Thema anzusprechen. Abends, wenn sie hätten aufbleiben können, um zu trinken und zu reden, schützte Tibor Müdigkeit vor. Andras lag wach auf der Matratze am Boden und fragte sich, wie er die zarte Zellwand durchbrechen solle, die ihn von seinem Bruder trennte; er hatte das Gefühl, Tibor verstecke sich hinter jener durchscheinenden Membran, als habe er Angst, klar und deutlich gesehen zu werden.
Die Abfahrt von Tibors Zug fiel auf den Abend des Spectacle d’Hiver von Klaras Ballettschülerinnen. Andras wollte seinen Bruder zum Bahnhof bringen und Klara anschließend im Théâtre Deux Anges treffen. Die bevorstehende Trennung ließ die beiden in der Métro schweigen; während der Fahrt unter der Stadt musste Andras an die lange Liste von Themen denken, über die sie in den vergangenen Tagen nicht gesprochen hatten. Nun würden sie sich wieder trennen, ohne zu wissen, wann sie sich wiedersahen. Sie hievten Tibors Gepäck aus der Métro und trugen es in den Bahnhof. Nachdem sie die Koffer in den Zug gestellt hatten, setzten sie sich auf eine Bank mit hoher Rückenlehne und tranken Kaffee aus einer Thermoskanne. Am Bahnsteig stand die Lokomotive, die Tibors Zug nach Italien ziehen würde: ein gewaltiges Insekt aus glänzend schwarzem Stahl, dessen Radkolben wie die Beine eines Grashüpfers angewinkelt waren.
»Hör mal, kleiner Bruder«, sagte Tibor, die dunklen Augen auf den Zug gerichtet. »Ich hoffe, du vergibst mir mein Verhalten auf der Hochzeit. Ich war abscheulich. Ich habe mich unehrenhaft benommen.«
Jetzt war es also so weit, eine halbe Stunde vor der Abfahrt. »Was war abscheulich?«
»Du weißt, was ich meine. Zwing mich nicht, es zu sagen.«
»Ich habe nicht gesehen, dass du etwas Unehrenhaftes getan hättest.«
»Ich konnte mich nicht für die beiden freuen«, sagte Tibor. »Ich konnte die prächtige Torte nicht essen. Ich konnte mich nicht überwinden zu tanzen.« Er atmete tief durch. »Ich habe etwas Abscheuliches getan, Andras. Nicht auf der Hochzeit. Davor.«
»Wovon redest du?«
»Im Zug habe ich etwas Unverzeihliches getan.« Tibor verschränkte die Arme vor der Brust und senkte den Blick. »Ich schäme mich, es dir zu erzählen. Es war eines Ehrenmannes unwürdig. Schlimmer. Es war die Tat eines dreckigen Lumps.«
Und dann gestand er, sich von Anfang an in Ilana di Sabato verliebt zu haben, von dem Augenblick an, als er sie in Florenz mit ihrem Schirm und ihrer blassgrünen Hutschachtel über den Bahnsteig gehen sah. Sie wurde von einem kleinen Jungen begleitet – ihrem Bruder, der mitgekommen war, um ihr bei den Koffern zu helfen. Er tat sehr wichtig, sagte Tibor – sehr wichtig und höchst verschworen. Doch dann merkte Tibor, wie dem Kleinen dämmerte, dass es kein Spiel war, dass seine Schwester tatsächlich in den Zug steigen und nach Paris fahren würde. Das Gesicht des Jungen verzog sich. Er hatte den Koffer abgestellt, sich darauf gesetzt und geweint.
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