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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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seines polierten Schuhs gegen eine Ecke seines Lederranzens. »Ich finde, du solltest Anya und Apa schreiben«, sagte er. »Erzähl ihnen, was zwischen dir und Klara geschehen ist. Verrat ihnen so viel wie möglich über Klaras Lage. Ich werde ihnen auch schreiben. Ich werde ihnen sagen, dass ich sie kennengelernt habe und dass ich dich nicht für verrückt halte, weil du sie heiraten willst.«
    »Ich bin aber verrückt.«
    »Nicht verrückter als jeder andere verliebte Mann«, erwiderte Tibor.
    Der Schaffner blies in die Pfeife. Tibor erhob sich und zog Andras zu einer schnellen Umarmung an sich heran. »Sei ein guter Mann, kleiner Bruder«, sagte er.
    »Bon voyage«, sagte Andras. »Einen schönen Frühling! Lern viel! Kurier dich aus!«
    Tibor ging über den Bahnsteig und stieg in den Zug, die Tasche über der Schulter. Nur kurz nachdem er verschwunden war, gab der Zug ein gewaltiges metallisches Stöhnen von sich; unter unablässigem Ächzen und Kreischen rollte er langsam aus dem Bahnhof. Die Grashüpferbeine der Maschine beugten und streckten sich. Andras hoffte, Tibor habe einen Fensterplatz ergattert, wo er sich damit trösten konnte, wie die Stadt in die Dunkelheit der winterlichen Felder überging. Er hoffte, Tibor würde Schlaf finden. Er hoffte, sein Bruder würde schnell heimkehren und dass er, einmal dort angekommen, vergessen konnte, dass es jemals ein Mädchen namens Ilana di Sabato gegeben hatte.
    Das Spectacle d’Hiver in jenem Jahr war eine stille, bescheidene Angelegenheit. Das Théâtre Deux Anges war klein, schäbig und schlecht geheizt, die blauen Samtsitze waren zu einem staubigen Grau verblichen; in den oberen Rängen schienen Geister zu hausen. Die Mädchen jagten sich in Kostümen aus blauem und weißem Satin über die Bühne, silberne Schneeflocken schwebten aus einer kalten Wolke im Schnürboden herab. Eine Gruppe Zwölfjähriger in kühlem rosa Tüll rief Andras die Dämmerung am Neujahrstag in Erinnerung. Er dachte an Klara im Square Barye: an die Röte ihrer Stirn unter dem roten Wollhut, die kristallenen Tropfen auf ihren Augenbrauen, an ihren Atemnebel in der kalten Luft. Er konnte kaum glauben, dass sie nach der Aufführung hinter der Bühne auf ihn warten würde – dieselbe Frau, die ihn vor fast einem Jahr in jenem verfrorenen Park geküsst hatte. Es war ein Wunder für ihn, dass ein Mann, der eine Frau liebte, von ihr zurückgeliebt wurde. Er rieb die Hände in der Kälte und wartete darauf, dass die violetten Lampen erloschen.

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    23.
Sportclub Saint-Germain
    JEDES FRÜHJAHR WETTEIFERTEN die Studenten der École Spéciale um den Prix du Amphithéâtre, der dem Gewinner eine Goldmedaille im Wert von hundert Franc, die Bewunderung der anderen Studenten und beachtliches Prestige für seinen Lebenslauf einbrachte. Im vergangenen Jahr hatte die schöne Lucia den Preis für den Entwurf eines Mietshauses aus Stahlbeton gewonnen. Das Thema dieses Jahres war eine städtische Sporthalle für olympische Sportarten: Schwimmen, Turmspringen, Turnen, Gewichtheben, Laufen, Fechten. Andras kam es widersinnig vor, eine Sporthalle zu entwerfen, während Europa auf den Krieg zusteuerte. Aus dem zerstörten Spanien strömten Flüchtlinge nach Frankreich; das Marais wurde von Asylsuchenden überflutet. Hunderttausend weitere wurden an der Grenze aufgehalten und in Internierungslager am Fuße der Pyrenäen verfrachtet. Jeder Tag brachte neue schlechte Nachrichten, und die schlimmsten kamen immer aus der Tschechoslowakei. Hitler hatte den tschechischen Außenminister zurechtgewiesen, sein Land müsse das Judenproblem entschlossener angehen; eine Woche später entfernte die tschechische Regierung jüdische Männer und Frauen von den Lehrstühlen der Universitäten, aus dem öffentlichen Dienst und von ihren Arbeitsplätzen im Gesundheitssystem. In Ungarn folgte Horthy diesem Beispiel und verlangte ein neues Kabinett, das eine engere Allianz mit den Achsenmächten einginge. Nicht mehr lange, spekulierten die Leitartikel in den Zeitungen, und auch das ungarische Parlament würde antijüdische Gesetze verabschieden.
    Wie sollte Andras angesichts dieser Nachrichten ein Schwimmbecken entwerfen, einen Umkleideraum, eine Bahn für das Lauftraining? Eines Abends saß er spät im Atelier, vor sich auf dem Tisch einen geöffneten Brief, die Zeichenwerkzeuge noch in ihrem Kästchen. Der Brief von seinem Bruder Mátyás war im Laufe des Tages eingetroffen.
12. Februar 1939
Budapest
Andráska,
Anya

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