Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Und Ilana di Sabato hockte sich zu ihrem kleinen Bruder und erklärte ihm, dass alles in Ordnung käme, dass sie ihn zu Besuch holen würde, dass sie ihren feinen neuen Ehemann nach Hause bringen würde, damit er den Bruder und den Rest der Familie kennenlernte. Doch das dürfe er niemandem erzählen, zumindest vorerst nicht. Das hättest du sehen müssen, sagte Tibor, wie sie dafür sorgte, dass er es verstand.
»Ich habe mir eingeredet, es sei nur normal, eine gewisse Zuneigung für sie zu empfinden«, fuhr Tibor fort. »Sie war meiner Obhut anvertraut worden, sie hatte keinerlei Schutz, und sie war zum ersten Mal in der großen weiten Welt. Alles war neu für sie. Vielleicht nicht ganz neu, denn sie kannte vieles aus Büchern – aber jetzt würde all das Wirklichkeit für sie werden, eine Welt, die sie sich vorgestellt, aber nie erlebt hatte. Ich sah ihr dabei zu. Ich war derjenige, den sie ansah, als wir die italienische Grenze überquerten. Es war, als würde ich erleben, wie ein Mensch geboren wurde. Auch, wie schmerzhaft es war. Ich sah ihre Erkenntnis, die Eltern, die Familie zurückgelassen zu haben. Als sie hinter der Grenze weinte, nahm ich sie in die Arme. Ich tat es fast ohne nachzudenken.« Tibor hielt inne und nahm seine Brille ab, rieb sich die Augen mit Daumen und Zeigefinger. »Und sie schaute zu mir auf, Andras, und wahrscheinlich hast du es längst erraten: Ich küsste sie. Kein unschuldiger Kuss, leider. Kein kurzer. Du siehst, ich habe deinen Freund verraten. Und ich habe mich an Ilana vergangen. Und nicht nur im Zug.« Wieder hielt er inne. »Ich will es dir erzählen, weil es seitdem schwer auf mir lastet. Ich habe etwas zu ihr gesagt, hier auf diesem Bahnhof, kurz bevor wir aus dem Zug stiegen.«
»Was denn?«
»Ich habe sie daran erinnert, dass sie noch eine Wahl hat«, sagte Tibor. »Ich sagte zu ihr, ich würde sie gerne wieder zurück nach Italien bringen, wenn sie ihre Meinung änderte.« Er schüttelte den Kopf und setzte die Brille wieder auf. »Und ich habe mich ihr erklärt, Andras. Später. An dem Morgen, als wir sie bei Klara besuchten. Als wir ihr das Buch aus der Bibliothek zurückbrachten.«
Andras dachte an das geflüsterte Gespräch, Tibors zitternde Hände, Ilanas Entsetzen. »Ach, Tibor«, sagte er. »Das also ging vor sich, als ich aus der Küche hereinkam.«
»Genau«, sagte Tibor. »Und einen Augenblick lang dachte ich, sie würde zögern. Ich machte mir vor, sie würde auch etwas für mich empfinden.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich sie noch einmal besucht hätte, hätte ich möglicherweise das Glück deines Freundes zerstört.«
»Aber das hast du nicht getan«, sagte Andras. »Alles lief wie geplant. Und die beiden machten einen glücklichen Eindruck auf der Hochzeit.« Das glaubte er, als er es aussprach, doch kurz darauf fragte er sich, ob es wirklich stimmte. Hatte Ilana an jenem Vormittag mit Tibor nicht betrübt gewirkt? Hatte zwischen den beiden am Hochzeitstag in der Küche nicht eine gewisse Spannung geherrscht? Saß Ilana in diesem Moment in Ben Yakovs Wohnung und dachte an Tibor?
»Sie sind verheiratet«, sagte Tibor. »Es ist passiert.«
Andras legte seinem Bruder den Arm um die Schulter und schaute hinüber zum großen Insekt der Lokomotive.
»Ich war furchtbar einsam in Modena«, sagte Tibor. »Für dich muss es genauso gewesen sein, als du herkamst. Aber du hast Klara kennengelernt.«
»Ja«, sagte Andras. »Und das war manchmal auch furchtbar.«
»Aber ich sehe ja, wie es jetzt zwischen euch ist«, sagte Tibor. »Wie oft war ich in dieser Woche krank vor Neid.« Er drückte die Hände zwischen den Knien zusammen. Im Fenster der Lokomotive schienen sich ein Ingenieur und ein offiziell wirkender Schaffner zu streiten, es sah aus, als diskutierten sie, ob sie die Reise nach Italien überhaupt antreten würden.
»Geh nicht zurück«, sagte Andras. »Komm und bleib bei mir, wenn du willst.«
Tibor schüttelte den Kopf. »Ich muss zur Universität gehen. Ich möchte mein Studium abschließen. Ich wüsste auch gar nicht, ob ich es aushalten würde, ihr so nah zu sein.«
Andras schaute seinen Bruder an. »Sie ist wunderschön«, sagte er. »Das stimmt.«
Etwas verschob sich kaum wahrnehmbar in Tibors Gesichtszügen, die Falten um seinen Mund wurden weicher. »Das ist sie«, sagte er. »Ich sehe sie in ihrem Kleid und dem Schleier vor mir. Gott, Andras, glaubst du, sie wird glücklich werden?«
»Ich hoffe es.«
Tibor stieß mit der Spitze
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