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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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École Spéciale, ein weiteres Wort zu sprechen.
    Ben Yakov heiratete seine florentinische Braut am kältesten Tag des Jahres. Ein feiner gefrorener Nebel lag vor der Synagogue de la Victoire in der Luft; in ihrem weißen Seidenkleid und dem eisigen Schleier wirkte sie wie in erstarrte Winterluft gekleidet. Doch in der Synagoge war es heiß und eng, und Andras spürte die vom Körper der Braut ausgehende Wärme, als sie unter den Hochzeitsbaldachin trat. Ihr Gesicht war unter dem mehrlagigen Schleier verborgen, aber Andras konnte ihre zitternden Hände sehen, als sie Ben Yakov sieben Mal umkreiste. Andras tauschte einen Blick mit Rosen, der eine andere Ecke des Baldachins hielt, und mit Polaner an der dritten Stange; der vierte Baldachinträger war Tibor. Ben Yakov sah prächtig aus in seinem Hochzeitshemd. Wie der Tallit war der Kittel von rein weißer Farbe, eine Erinnerung an den Tod. Eines fernen Tages würde dieser Umhang sein Totenhemd sein. Nachdem der Rabbiner den Wein gesegnet hatte, streifte Ben Yakov Ilana den Ring über den Finger und verkündete, sie sei ihm nun nach dem Gesetz Moses und Israels angelobt. Nach der Tradition schwieg sie unter ihrem Schleier. Sie würde Ben Yakov erst nach der Zeremonie einen Ring schenken. Ben Yakovs Onkel und Großväter wurden zum Hochzeitsbaldachin gerufen, um die Sieben Segenssprüche zu sprechen. Andras spürte, wie die Spannung im Heiligtum beim Beten anstieg, spürte sie wie einen zunehmenden Luftdruck; über den feierlichen hebräischen Worten schwebte das Wissen der Anwesenden, dass diese Braut ohne das Einverständnis ihrer Eltern heiratete, dass es sich hier um einen Akt der Rebellion handelte. Und es lag noch ein anderes Gefühl in der Luft, eine dunklere Vorahnung: Vor ihnen stand eine Jungfrau, die nicht mehr lange Jungfrau sein würde.
    Als die Onkel und grands-pères an der Reihe gewesen waren und der Wein abermals gesegnet worden war, zertrat Ben Yakov das Hochzeitsglas mit dem Schuh. Als hätte das Geräusch sie erschreckt, lüpfte die Braut endlich ihren Schleier, und die kleine Gästeschar sang siman tov u’mazal tov . Und dann gingen alle zum Hochzeitsschmaus in die Rue de Sévigné.
    Im Esszimmer warteten ein gebratenes Lachsfilet, eine Hochzeitschalla, dampfende Schüsseln mit roten Kartoffeln und süßen goldenen Nudeln; es gab teuren weißen Spargel aus Marokko, eine Schale Apfelsinen aus Spanien und auf einem separaten Tisch die umwerfende Torte, die Elisabet gebacken hatte: ein herrliches dreistöckiges Kunstwerk, verziert mit Liebesperlen und silbrigen Zuckerblättern. Im Schlafzimmer direkt hinter der Esszimmerwand verbrachten Madame und Monsieur Ben Yakov die rituelle halbe Stunde der Zweisamkeit. Ein Geigenspieler und ein Klarinettist unterhielten im Wohnzimmer einen Teil der Gäste, andere tranken Weißwein im Stehen und bestaunten die aufgetragenen Speisen.
    In der Küche hatte Tibor ein Kind verarztet, das draußen auf dem vereisten Pflaster ausgerutscht war. Andras half seinem Bruder, das aufgerissene Knie des Mädchens zu verbinden und die Schürfwunden an seinen Handflächen zu säubern. Es war eine Cousine von Ben Yakov, schwarzäugig und melancholisch in einem blauen Taftkleid; offensichtlich genoss die Kleine die Aufmerksamkeit zweier so gut gekleideter junger Herren, und als sie ihr den Verband angelegt hatten, verlangte sie von den Brüdern, bei ihr zu bleiben, bis es ihr besser gehe. Sie begann ein Spiel mit Tibor, indem sie auf einen Gegenstand in der Küche zeigte und die französische Bezeichnung nannte, worauf Tibor das entsprechende Wort auf Ungarisch ergänzte; die Kleine schien jedes ungarische Wort umwerfend komisch zu finden. Andras war dankbar für die Ablenkung. In ihm keimte der Verdacht, dass im Zug von Florenz nach Paris etwas Folgenschweres, Unaussprechliches zwischen Tibor und Signorina di Sabato vorgefallen war. Andras und Tibor hatten die vergangene Woche mit Beschäftigungen verbracht, die angenehm hätten sein sollen – sie waren ins Kino und zu einem Jazzabend in Montmartre gegangen, sie waren mit Rosen, Polaner und Ben Yakov einen Abend trinken gewesen, um den Junggesellenabschied des Bräutigams zu feiern, sie hatten Ben Yakov zum Schneider begleitet, wo er seinen Hochzeitsanzug abholte, und sie hatten geholfen, die Wohnung des Paares auszustatten –, doch Tibor war die ganze Zeit reserviert und zerstreut gewesen, hatte sich oft schweigend zurückgezogen, wenn das Gespräch auf Ilana kam. Am Tag der

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